Es war ein kühnes Manöver, das Dino Toppmöller da in der 66. Spielminute wagte. Er nahm den Abwehrspieler Benjamin Pavard aus dem Spiel und brachte den Angreifer Serge Gnabry, das bedeutete nichts weniger als: volles Risiko. Jeder im Estadio da Luz spürte, welche Fallhöhe in diesem Wechsel steckte, denn ein Trainer, der sich auf größter Bühne derart exponiert, weiß genau, was er tut. Er nimmt in Kauf, zum Gewinner oder Verlierer des Spiels zu werden. Er akzeptiert die Verantwortung für all das, was nun passiert.
Dino Toppmöller, 40, trägt einen großen Namen, er ist der Sohn des großen Klaus Toppmöller, der Anfang des Jahrtausends mal als einer der couragiertesten Trainer des Landes galt. Gnabry für Pavard, das konnte nur bedeuten, dass der Sohn den Optimismus des Vaters übernommen hat, und man durfte jetzt also gespannt sein, ob und wie sehr der junge Trainer diesen 4:0-Sieg in Lissabon für sich reklamieren würde.
Kingsley Coman gegen Benfica:Bayerns erfolgreichste Teilzeitkraft
Schon wieder Lissabon, schon wieder reihenweise exquisite Momente: Kingsley Coman bringt nach seiner Herz-OP sein ganzes Repertoire zur Aufführung - sein Auftritt ist auch ein Statement in eigener Sache.
Toppmöller sagte dann: "Es ist ja nicht so, dass ich in Julians Abwesenheit eigenmächtige Entscheidungen treffe." Den Wechsel habe der Chef aus dem Hotel in Auftrag gegeben, "eine mutige Entscheidung" sei das gewesen, aber auch "eine goldrichtige". Da könne man mal sehen, dass "Julian zwar krank, aber im Kopf noch immer sehr fix" sei.
Julian Nagelsmann hat aus dem Hotelzimmer den Sieg eingewechselt, das wäre eine schöne Schlagzeile für einen jungen Trainer, der beim wuchtigsten Verein des Landes die Nachfolge eines Sieben-Titel-Coaches angetreten hat. An einem normalen Abend hätte diese Zeile noch ein paar Ausschmückungen vertragen, auch sie wurden ja bereitwillig vom Assistenten Toppmöller zur Verfügung gestellt. In der ersten Halbzeit sei "der Funkverkehr" noch gestört gewesen, aber in der zweiten Hälfte habe Nagelsmann verlässlich den Videoanalysten Benjamin Glück auf der Tribüne erreicht, der des Trainers Anweisungen an den zweiten Assistenten Xaver Zembrod hinunter zur Bank vermittelte. Funkverkehr, das klingt nach Kommunikation zwischen Pilot und Tower, in Wahrheit waren es wohl vor allem sehr, sehr viele Whatsapp-Nachrichten, die da den Besitzer wechselten.
Schöne Schlagzeilen sind es dann aber nicht geworden. Am Morgen nach dem Spiel wurde bekannt, dass Nagelsmann sich mit dem Coronavirus infiziert hat, trotz vollständiger Impfung, wie sich der FC Bayern beeilte zu betonen. Am Abend des Spiels hatten die Münchner noch betont, der Trainer habe sich "wegen eines grippalen Infekts nicht so gefühlt, dass er zum Spiel kommt", so sagte es der Sportvorstand Hasan Salihamidzic dem Streamingdienst Dazn. Auch Pressesprecher Dieter Nickles blieb in der Pressekonferenz nach der Partie bei der Klubversion vom "grippalen Infekt". Am Morgen nach dem Spiel hat Nagelsmann dann offenbar die Nachricht von einem positiven PCR-Test empfangen, sie traf ihn wohl nicht unvorbereitet.
Der Trainer werde getrennt von der Mannschaft mit einem Ambulanzflieger nach München zurückkehren und sich dort in häusliche Isolation begeben, erklärten die Bayern am Donnerstagmorgen. Wie lange der Trainer fehlen wird, ist offen; die Münchner dürften mit Interesse zur Kenntnis genommen haben, dass sich Fabian Bredlow, der Ersatztorwart des VfB Stuttgart, in der vergangenen Woche nach fünf Tagen freitesten konnte, weil er vollständig geimpft war. Für die Auslegungen der Quarantäne-Regeln sind die lokalen Gesundheitsämter zuständig. Nagelsmann dürfte sich Hoffnung machen, schon in der kommenden Woche wieder zum Team zurückkehren zu dürfen. Allerdings müsste er dafür in Bayern wohl auch einen asymptomatischen Krankheitsverlauf durchlebt haben.
Das Protokoll der Uefa sieht für alle Mitglieder der Gastmannschaft einen Test vor
Dennoch bleiben Fragen, keine systemrelevanten zwar, aber doch welche, in die einen die Neugierde treibt. Zum Beispiel, wann genau Nagelsmann jene Symptome eines grippalen Infekts erstmals spürte? Wahrscheinlich erst im Hotelzimmer in Lissabon, das Nagelsmann dann gar nicht mehr verließ vor dem Anpfiff der Partie. Der erkältete Bayern-Spieler Leon Goretzka trat die Reise jedenfalls gar nicht erst an.
Das im Juli aktualisierte Hygienekonzept der Deutschen Fußball Liga (DFL) entbindet vollständig geimpfte Teilnehmer am nationalen Profifußballbetrieb wie Nagelsmann von den regelmäßigen Testungen. Weil er aber irgendwann - ob noch vor dem Abflug, in der Luft, oder erst nach der Landung - die Symptome einer Grippe verspürte, musste er sich in Lissabon "unverzüglich" in seinem "Hotel isolieren" und "sich für weitere Anweisungen an die Behörden wenden", das schreibt das Protokoll der Uefa vor. Offenbar hielt er sich an diese Anweisung vorbildlich. Sein Assistent Toppmöller jedenfalls erzählte am Abend, er habe Nagelsmann am Spieltag noch überhaupt nicht gesehen.
Hat Nagelsmann das Virus an andere Mitglieder der Reisegruppe weitergereicht?
Die Frage, ab wann Nagelsmann das Virus weitergereicht haben könnte, dürfte trotzdem alle Mitglieder der Münchner Reisegesellschaft nun brennend interessieren. Ihm gehe es "den Umständen entsprechend gut", teilte der Trainer am Tag nach dem Spiel auf Twitter mit, dem allseits beliebten Tool zur Kommunikation in Zeiten von Selbstisolation.
Am Samstag spielen die Bayern in der Bundesliga gegen die TSG Hoffenheim, Ironie des Schicksals, Nagelsmann wird dann ausgerechnet gegen seinen Ex-Verein fehlen. Toppmöller wird dann aber schon ein kleiner Aushilfstrainer-Routinier sein, und die Funkverbindung rund um die Münchner Arena gilt als durchaus stabil.