Vierschanzentournee:Kobayashi segelt mit Autopilot

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Gleitet wie von selbst durch die Luft: Ryoyu Kobayashi unterwegs zum Sieg im Neujahrsskispringen von Garmisch-Partenkirchen. (Foto: Ulrich Wagner/Imago)

Der letzte verbliebene Tournee-Favorit Ryoyu Kobayashi befindet sich vor dem dritten Springen in Innsbruck in einer überragenden Form. Das liegt an der Arbeit der vergangenen Jahre - und an dunklen Nächten im Norden Finnlands.

Von Volker Kreisl

Er jubelt. Eindeutig ist das zu erkennen, Ryoyu Kobayashi lässt seiner Freude freien Lauf, fast schon an der Grenze zur Ausgelassenheit. In Engelberg: eine Faust, lässig auf Hüfthöhe durchgeschwungen, als halte sie eine Peitsche. In Oberstdorf: zwei Fäuste und ein Blick in den Himmel. Und zuletzt, in Garmisch-Partenkirchen: zwei Zeigefinger nach oben gestreckt, wie Torschützen im Fußball es machen.

Er ist eben zurück an der Spitze seines Sports, und offensichtlich verschafft ihm das auch immer mehr Selbstvertrauen. Kobayashi, auch erst 25 Jahre alt, hat die alte Sicherheit wieder, und nun wirkt er ruhig, auch in diesen besonderen Tagen, in denen er einen neuen Status im Skispringen erreichen kann. Lange Zeit galt Sven Hannawalds Vierfachsieg bei der Tournee als kaum wiederholbar, dann kamen der Pole Kamil Stoch und der Japaner Kobayashi und schafften den Schanzen-Grand-Slam 2018 und 2019, binnen zwei Wintern.

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Und nun ist jener Kobayashi auf dem besten Weg, als Erster die Tournee zum zweiten Mal komplett zu gewinnen. Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen hat er bereits für sich entschieden - und nicht nur das: Kobayashis Form ist offenbar nachhaltig stabil, sonst hätte er nicht schon in Engelberg bei der Tournee-Generalprobe gesiegt - wie auch schon vor drei Jahren.

In Japan ist die Gemeinschaft wichtig, dennoch wirkt er nun selbstbewusster

Kobayashi fährt an, springt und segelt, fast ohne Fehler. Und weil Skispringen ein Einzelsport ist und Überragende sich nur selber besiegen können, stellt sich die Frage, ob er nach zwei durchschnittlichen Wintern wirklich schon wieder ganz der Alte ist - oder doch noch zu Ausrutschern fähig. Wenigstens zu einem?

Bei seinen bisherigen Aufführungen deutete nichts darauf hin. Kobayashi hat offensichtlich sein inneres Gleichgewicht als Springer gefunden, sein Körper vollzieht die Bewegungen wie von selber, jener Autopilot aus dem Unterbewusstsein ist nun aktiv, der bei den Besten das Springen wie eine einzige ineinanderfließende Bewegung erscheinen lässt: Die Anfahrtshocke ist tief genug für einen gewaltigen Absprung, aber immer reichlich vornüber geneigt, damit beim Absprung das System wie von selbst nach vorne dreht, womit Kobayashi sowohl besonders hoch als auch schnell fliegt.

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Doch jeder junge Sportler verändert sich mit dem Alter, durch die Erfahrungen mit Menschen, Rückschlägen und auch mit Siegen. Kobayashi wird seit Jahren von Dolmetscher Markus Neitzel begleitet, einem Pfarrer aus Hessen, der nach vielen Jahren in Japan mit den Traditionen dieses Landes vertraut ist. Neitzel erklärte die Zurückhaltung, den kaum merklichen Jubel Kobayashis 2018 mit der Mentalität im Lande. Der Einzelne zähle wenig, die Gesellschaft um ihn sei wichtiger. Die Älteren seien mit Respekt zu behandeln, für Kobayashi zum Beispiel sein Mentor und Vorbild Noriaki Kasai, der älteste Weltcupgewinner im Skispringen, den er vor drei Jahren erstmals überholte und auch dabei lieber nicht zu selbstherrlich und gestenreich jubelte.

Aber wie soll das funktionieren? Immer im Dienste der Gruppe zu leben und zu denken und dann Skispringen zu betreiben? Den Einzelsport, in dem man für Sekunden völlig allein ist in der Luft, was, wie die Springer erzählen, ein großartiges Glücksgefühl hervorruft, aber eben auch ausgeprägtes Verantwortungsdenken für sich selbst. Die meisten Skispringer wirken sehr selbstbewusst, sie wissen, was sie können, und wollen es verwirklichen. Und dies ist allmählich nun auch bei Kobayashi zu erkennen. Er spricht mittlerweile längere Sätze, er hat vor einem Jahr in der Weihnachtspause eine Spritztour nach Paris unternommen, um dort zu shoppen. Er weiß offenbar, was er will, was seine Qualitäten sind, und er kennt zum Beispiel auch den Zeitpunkt, wann in diesem Winter der Knoten aufging.

Die Bergisel-Schanze in Innsbruck könnte die letzte Chance für die Verfolger sein

Es war Anfang Dezember, da hatte er sich mit Corona infiziert und musste sich in Quarantäne begeben. Doch der Rückzug und die zehntägige Isolation im Hotel im winterdunklen Ruka im Norden Finnlands betrübten ihn offenbar nicht. Kobayashi taten die Ruhe und der plötzliche Abstand vom Sport eher gut. "Ich habe eine Pause einlegen müssen, und von diesem Zeitpunkt an lief es", erzählte er nun nach seinem Sieg in Garmisch. Auch die zweite Ruhephase scheint ihn beflügelt zu haben. Anders als sonst verbrachte Japans Team die europäische Weihnachtszeit nicht in Japan, sondern es blieb im corona-geschlossenen Europa, was bedeutete: noch eine Woche Ruhe, aus der Kobayashi wohl auch die Kraft von zwei Tournee-Auftaktsiegen mitnahm.

Sockel-Sturz: Sein Pokal zerbrach am Samstag beim Siegerfoto in Garmisch-Partenkirchen in zwei Teile. Die Chancen von Ryoyu Kobayashi auf den Gesamtsieg bei der Tournee sind aber mehr als intakt. (Foto: Thomas Bachun/Gepa/Imago)

Nun geht es nach Innsbruck, auf die Bergisel-Schanze mit ihrem engen Anlauf, dem kurzen Radius, in dem die Intuition für die Absprungbewegung besonders wichtig ist. Vielleicht ist das ja die letzte Chance, könnten somit die letzten möglichen Konkurrenten denken, also der Norweger Marius Lindvik, Lovro Kos aus Slowenien und der plötzlich wiedererstarkte Siegsdorfer Markus Eisenbichler, der aber trotz seines erstaunlichen zweiten Platzes in Garmisch noch 21,1 Punkte, also 11,7 Meter beim Aufsprung von Kobayashi entfernt ist.

Sie alle könnten jetzt in die Archive tauchen und sich motivieren, indem sie Kobayashis teils sehr mäßige Performance am Bergisel studieren. 2017 hatte er die Qualifikation verpasst, 2018 wurde er 31., 2020 kam er nur auf Platz 14 ,und vergangenes Jahr war er zumindest in den Top Ten, wenn auch nur Siebter. Aber was hilft's? Im Jahr 2019 hatte er ja doch ganz locker in Innsbruck gewonnen, beim ersten Grand Slam, bei dem er seinen Flow mit einem Sieg in Engelberg entfacht hatte, wie aktuell eben auch. Vielleicht sollten sich die Gegner lieber doch nicht Kobayashis Bergisel-Statistik anschauen.

Der ist schließlich auch deshalb überragend, weil ihm offenbar das besser gelingt, was Skispringer in Meditationen und mit anderen Techniken üben: dem Körper zu vertrauen und den Geist ruhen zu lassen. Kobayashi hat dies womöglich in der finnischen Isolation weiterentwickelt. Jedenfalls glaubt man ihm, wenn er gefragt wird, was er über schwere Umstände, starke Gegner oder das berechenbare Wetter denke, und dann antwortet: "Ich denke an gar nichts."

Vielleicht ist Kobayashi gar nicht mehr der Alte - vielleicht ist er noch viel besser.

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