Vierschanzentournee:Die Hierarchie ist durcheinandergeraten

Lesezeit: 5 min

Karl Geiger wurde Fünfter in Oberstdorf, damit darf er durchaus noch Ambitionen anmelden bei der Vierschanzentournee. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Zu Beginn gleich ein Drama: Nach dem Auftaktspringen bringt die Tournee bereits erste prominente Verlierer hervor. Chancen auf den Gesamtsieg hat noch ein Quintett an der Spitze um den Deutschen Karl Geiger.

Von Volker Kreisl, Oberstdorf

Eigentlich war alles ruhig um die Schattenbergschanze von Oberstdorf. Sie lag friedlich am Fuße der schneebedeckten Gipfel. Die Touristen, die ja nicht ins Stadion dürfen, streiften durch die Fußgängerzone, während sich Einheimische aufmachten zu den Geheimplätzen an Waldrändern und auf Hügeln, von denen man auch in Corona-Zeiten einen passablen Blick auf die Schanze hat. Berge, Stille und sogar eine zarte Wintersonne - nichts deutete darauf hin, was sich am Abend auch ohne tosendes Publikum abspielen würde.

Das Auftaktspringen der Vierschanzentournee war derart abwechslungsreich, dass man sich kaum vorstellen kann, wie das auf den nächsten Stationen in Garmisch-Partenkirchen und in Österreich noch übertroffen werden soll. Hin und her ging es, vor und zurück für die Skispringer. Und am Ende bot dieser Abend sechs Hauptdarsteller - fünf Topleute und den Wind, und dazu in den Nebenrollen mehrere Pechvögel. Die fünf Springer, der japanische Sieger Ryoyu Kobayashi, die drei Norweger Halvor Egner Granerud, Robert Johansson, Marius Lindvik und der fünftplatzierte Oberstdorfer Karl Geiger, haben alle noch Chancen auf den Gesamtsieg. Geigers Abstand zu Kobayashi beträgt 6,1 Punkte, das entspricht etwa 3,38 Metern bei der Landung.

Vierschanzentournee
:Viel Platz für Optimismus

Beim Auftaktspringen der Vierschanzentournee in Oberstdorf ist Karl Geiger zunächst enttäuscht - doch nach einer Flugshow der Top-Athleten gehört er weiter zu den fünf Anwärtern auf den Tourneesieg.

Von Volker Kreisl

Nach dem ersten Durchgang war bereits die gewohnte Hierarchie aus dem Weltcup durcheinandergeraten, und der Showdown der Letzten begann dann ungewohnt mit dem derzeit stabilsten und elegantesten Akteur, Ryoyu Kobayashi. Als Fünfter nach dem ersten Durchgang hatte er wohl nicht lange nachgedacht, sondern war auf Attacke gegangen. Er stürzte sich derart mutig vom Schanzentisch hinaus, dass er in höhere Luftzonen geriet. Weil Kobayashi unscheinbar wie kaum ein anderer von Springen auf Fliegen umschalten kann, verlor er kaum an Geschwindigkeit. Wie ein Mauersegler schwebte er dahin, aber wie konnte das gehen? Trotz des Rückenwindes, der doch die ganze Zeit blies?

Tatsächlich hatte der Japaner in diesem Moment auch Glück, denn als er oben saß, herrschte plötzlich Windstille. Die Jury versuchte also mit weniger Anlauf die bessere Luft auszugleichen: weil alle anderen zuvor vom Rückenwind im Flug früh nach unten gedrückt wurden, sollten die letzten Springer fairnesshalber weniger Anlauf und damit weniger Tempo im Flug haben. Das Problem - der Wind machte, was er wollte. Als Kobayashi sprang, hatte er sogar ganz leichten Aufwind, der Balken war aber nur um einen Platz auf Nummer 18 nach unten versetzt worden. Und als man endlich den richtigen Dreh gefunden hatte, da beendeten die Luftmassen ihre Atempause, und es wehte wieder herunter vom Nebelhorn.

Dies war der entscheidende Moment für den Hauptakteur, jedenfalls aus Sicht der örtlichen Kiebitze auf den Hügeln: Karl Geiger war nun dran, die Jury hatte längst das Startgate 16 bestimmt, der Wind blies aber schon wieder merklich mit 0,31 Metern von hinten. Es war also der Moment, in dem der Oberstdorfer seine große Chance vergeben hätte können. Jedoch, er hob etwas eckig, aber doch effektiv ab und legte sich, wenn auch gefühlt eine Etage tiefer als Kobayashi, auf sein dünnes Luftkissen. Dann rückte schon Kobayashis grüne Linie ins Blickfeld, Geiger holte alles heraus, was die Anströmung noch ermöglichte, schaffte es aber nicht ganz.

Siegestaumel: Ryoyu Kobayashi (rechts) jubelt mit seinem Bruder Junshiro. (Foto: Christof Stache/AFP)

Andererseits - den Anschluss hat er gehalten. Das könnte damit zu tun haben, dass Geiger weniger ein Gefühls- als ein rationaler Springer ist. Niemand kennt diese Schanze besser als er, es war seine große Chance, die gerade schrumpfte, jeder würde da wohl hektisch werden. Auch Geiger, so beobachtete es Horngacher, "war sehr angespannt heute". Das Nötigste ist ihm in diesem Moment indes gelungen, vielleicht auch deshalb, weil er, wie sein Trainer findet, "ein Arbeitertyp ist", einer, der jede Änderung, jeden Einfluss analysiert und in die Gestaltung seines Sprunges einbezieht.

Solche Wettkampftypen wirken zwar nicht genial, sie sind aber zu konstanten Leistungen fähig. Geiger gelingt dies seit drei Jahren, die Norweger dagegen waren früher anfälliger, bis sie im Dezember wieder ein dauerhaftes Hoch erwischten. Und das Team des österreichischen Cheftrainers Alexander Stöckl trat nun auch im Finale als starker Block auf. Drei seiner Besten waren den Winter über fast immer unter den Top Ten gelandet. Nun lagen sie wieder in Podestnähe, mit einer geringen Änderung: Daniel-André Tande fehlte, dafür war Robert Johansson plötzlich als Mitfavorit dabei. Dennoch - die weitesten Sprünge gelingen immer noch Stöckls Bestem, nämlich Halvor Egner Granerud, dem Gegenmodell zu Karl Geiger.

Granerud trudelt weiterhin schräg nach unten - hat aber Erfolg

Während der Deutsche jede Bewegung optimieren will, machte Granerud lange eher intuitiv so sein Ding, was Stöckl auch bedenklich stimmt. Aber was soll er machen? Einen Springer, der Erfolg hat, sollte man nicht umerziehen. Eine Jugendmacke hat Granerud immer noch. Beim Absprung zieht er manchmal den linken Fuß nach und belastet das rechte Bein, worauf der linke Ski "abschmiert", wie Stöckl sagt. Die schlechte alte Angewohnheit schlägt gerne in Stresslagen durch, bislang aber ohne Auswirkungen auf das Ergebnis.

Es wird also noch eine Weile die Granerud'schen Schräglagen zu bewundern geben, mit denen der Mann aus Oslo nahezu diagonal wie ein Flieger mit verstelltem Autopilot nach unten trudelt und dann rechts knapp neben der Bande aufsetzt. Aber rechts, links oder mittig - wo man landet, das ist egal, Hauptsache, im Schnee und elegant, und deshalb ist Granerud nach Oberstdorf Zweiter hinter Kobayashi, mit 2,8 Punkten Rückstand.

Granerud, der 25 Jahre alte Instinktspringer, stellt momentan das Gegenteil dar zu den bereits geschlagenen Topleuten dieser Tournee. Früher als sonst, wohl auch wegen der dichten Konkurrenz in diesem Winter, stehen schon einige prominente Verlierer fest. Kamil Stoch, der Titelverteidiger, kam im ersten Durchgang nur 118 Meter weit. 118 - diese Marke des Oberstdorfer Hanges hatte er bei seinen vielen Tourneeerfolgen, unter anderem beim Vierfachsieg 17/18, immer nur in luftiger Höhe überflogen.

Überraschend kam auch der frühe Abschied des Norwegers Daniel-André Tande, dessen Form nach seinem heftigen Sturz beim Skifliegen wohl noch länger braucht, um wieder aufzublühen. Bitter, weil auf eine Weise beiläufig, kam das Aus des österreichischen Kamil Stoch, nämlich das von Stefan Kraft. Auch er war über die vergangenen sieben Jahre stets ein Podestspringer, hatte die Tournee schon gewonnen oder zumindest spannend gehalten, wenn es hinüberging, zu den Schanzen in Innsbruck und Bischofshofen.

Einer der Verlierer: Severin Freund. (Foto: Matthias Schrader/AP)

Aber es geht immer auf und ab im Sport, vor allem in diesem. Für alle, die gerade verlieren, stellt der Rastbüchler Severin Freund daher, pathetisch gesagt, einen Leuchtturm dar. Freund, der Weltmeister und Gesamtweltcupsieger, der den Wiederaufstieg des DSV-Springens nach der Ära Schmitt/Hannawald maßgeblich beförderte, war nun nach langer Verletzungspause zurückgekommen, und es ging wieder nach oben: Freund machte in der Qualifikation einen derart weiten Satz, dass er daraufhin über eine Stunde lang mehr als 50 Springer bei bitterkalter und nasser Luft in der Leadersbox abwartete, ehe endlich einer besser war. Im Finale kam der nächste Erfolg, Freund lag nach tollem Sprung als zweitplatzierter Deutscher aussichtsreich im Rennen, ehe es wieder bergab ging.

Denn sein Anzug erwies sich als zu weit. Auch das ist ein Malheur, das schnell mal passieren kann, denn die Schneider nähen wegen des drohenden Wettbewerbsnachteils eines zu engen Anzugs immer an die Grenze des Erlaubten. Freund nahm seine Disqualifikation still hin, "Kontrolle ist wichtig", sagte er zum Abschluss dieser denkwürdigen Auftakt-Tage der 70. Vierschanzentournee.

Später bot das Finale dann noch einen großen Moment jenes Springers, der trotz der knappen Abstände als erster Favorit gelten muss. Denn Ryoyu Kobayashi, der schon so lange den Hang hinabflog, überquerte nun schon die gefährliche Zone, er näherte sich dem Schanzenrekord (143,5 Meter), doch er plumpste nicht einfach zur Sicherheit mit beiden Beinen auf einer Höhe in den Schnee, sondern behielt seine herausragende Eleganz und setzte sogar den Telemark.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Was bleibt von Olympia?
:Hommage an den Wahnsinn

Es hat sich gezeigt: Man kann in einer Pandemie Olympische Spiele ausrichten, ohne Zuschauer, ohne große Emotionen, ohne Freiheit. Aber zu welchem Preis? Auf Spurensuche in Tokio.

Von Thomas Hahn

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: