Die emotionale Intelligenz gehört zu den großen Vorzügen von Sami Khedira. Der gebürtige Stuttgarter bleibt auch dann erstaunlich gelassen und unaufgeregt, wenn die Welt um ihn herum tobt. In guten wie in schlechten Zeiten. Als Fußballer erlebt er gerade euphorische Zeiten bei Juventus Turin. Der Nationalspieler bescherte seinem Klub in der Serie A mit dem Siegtor gegen Lazio Rom am Wochenende den zweiten Erfolg in dieser noch jungen Spielzeit. Eine Woche davor hatte er schon einen Treffer zum 2:1 gegen den AC Florenz beigetragen.
"Khedira trifft mit der Leichtigkeit eines Schmetterlings und der Genauigkeit eines Chirurgen", frohlockte die Tageszeitung La Repubblica, während die Gazzetta dello Sport schwärmte, dass der 29-Jährige "das ideale Testimonial für eine Schweizer Uhr" sei.
Wahrscheinlich lacht der Mittelfeldspieler bei solch verbalen Kränzen leise in sich hinein. Khedira hat in seinen Jahren als weitgereister professioneller Fußballer gelernt, dass er sich weder mit Lob noch mit Kritik lange aufhalten darf. "An die Tore denke ich nicht", sagte Khedira nach dem Sieg gegen Lazio Rom, "es ist wichtiger, dass ich mich körperlich fit fühle und der Mannschaft helfen kann."
Seine ruhige und bescheidene Art passt gerade gut nach Italien. Dort herrscht nach dem schweren Erdbeben große Traurigkeit. Mehr als 280 Menschen kamen ums Leben. Khedira spendete 20 000 Euro für die Opfer und kündigte an, ein signiertes Juve-Trikot versteigern zu wollen. "Jeder kann etwas beitragen", schrieb Khedira auf Facebook. Ihn bewegte vor allem der Tod eines 18 Monate altes Kindes, dessen Mutter vor sieben Jahren das Beben in L'Aquila überlebt hatte. Er wolle deshalb sein Geld "insbesondere Kindern und Härtefällen" zukommen lassen.
Es ist die Empathie abseits des Platzes, die Khedira auf dem Platz zu einem besonderen Spieler macht, zu einer natürlichen Autorität, die sein Trainer Massimiliano Allegri so schätzt. "Sami ist ein phänomenaler Profi, Spieler von seiner Wertigkeit gibt es nur wenige auf der Welt." Nach dem Abschied von Paul Pogba zu Manchester United hatten schon einige in Turin Sorgen geäußert, dass der Verlust des Franzosen die Balance von Juventus ins Wanken bringen könnte. Doch Khedira habe "Pogba vergessen gemacht", analysiert die Zeitung Tuttosport.
In der Tat bringt der Deutsche im defensiven Mittelfeld nicht nur Präzision und Struktur ins Spiel, mit seiner Wucht und Athletik beschert er auch dem Angriff die nötigen anarchischen Überraschungsmomente. Das Tor gegen Lazio Rom nach einem Zuspiel von Paulo Dybala hätte auch Bayerns Robert Lewandowski nicht besser abschließen können. "Pogba war ein wichtiger Spieler", sagt Khedira, "doch unser Kader hat die Klasse, ihn zu ersetzen."
Für die anstehenden Länderspiele hat Joachim Löw drei Olympia-Fahrer nominiert. Die Kapitänsbinde wird er wohl dem unumstrittensten Spieler im Kader geben.
Etwa 105 Millionen Euro hat Juventus für Pogba eingenommen. 145 Millionen Euro hat der Klub allein für Gonzalo Higuaín, Miralem Pjanic und Marko Pjaca reinvestiert. Doch gegen Rom saßen alle drei zunächst auf der Bank. Dass Khedira einmal eine so tragende Rolle zukommen könnte beim italienischen Meister, hätten wohl die wenigsten - außer ihm selbst - für möglich gehalten.
Nach seinem Wechsel von Real Madrid erlebte er schwierige Monate, zunächst verzögerte ein Musekelfaserriss sein Debüt, anschließend verbrachte er mit Oberschenkel- und Adduktorenbeschwerden mehr Zeit in Physio- und Arztpraxen als auf dem Rasen. Vor allem nach dem Achtelfinal-Aus gegen den FC Bayern in der Champions League steigerte sich die Kritik an seiner Verletzungsanfälligkeit - bis hin zu wüsten Beschimpfungen in den italienischen Gazetten ("Der Juve-Talisman hatte von Anfang an seine Kraft verloren").
Löws Lieblingsspieler
Die Kritiker ließen dabei unerwähnt, dass Juventus in der verletzungsfreien Zeit stark von Khediras Präsenz und zupackender Art profitierte. Immer wenn Khedira auf dem Platz stand, verlor Juventus kein Spiel, die Mannschaft gewann sogar 21 von 22 Partien. Zumindest die Menschen auf der Tribüne kennen diese bemerkenswerte Bilanz. Beim Spiel in Rom machten die mitgereisten Juventini darauf aufmerksam."Was interessiert uns Pogba, wir haben Khedira!", sangen sie voller Inbrunst, sobald Khedira an den Ball kam.
Die Liebesbotschaften für Khedira werden auch bei Joachim Löw angekommen sein, der am Montag ihn und die übrigen Nationalspieler in Düsseldorf empfängt, um sie für die Länderspiele gegen Finnland und in Norwegen zu präparieren. Doch der Bundestrainer weiß schon lange, was er an Khedira hat. Er ist sein Lieblingsspieler. Deshalb braucht er ihn nach dem Rücktritt von Bastian Schweinsteiger nicht noch symbolisch zum Kapitän befördern. Khedira ist auch ohne Binde eine Autoritätsfigur, zu der die jüngeren Profis aufschauen und sich an ihr aufrichten können.
