Nach 1:1 gegen die Schweiz:Italien bangt um WM-Teilnahme

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Übers Tor: Jorginho (blaues Trikot) vergibt gegen die Schweiz in der 90. Minute die große Chance auf den Sieg. (Foto: Alberto Lingria/Reuters)

Der Glanz aus dem Zaubersommer ist verflogen: Nach dem Unentschieden gegen die Schweiz müssen die Azzurri gegen Nordirland gewinnen - und das möglichst hoch.

Von Oliver Meiler, Rom

Die Italiener, dem Pathos durchaus zugewandt, können auch brutal mit sich ins Gericht gehen. Gerade im Fußball, und gerade wenn sie sich betrogen fühlen in ihrer Liebe und in ihren Erwartungen. "Wir waren hässlich, schmutzig und zu wenig intensiv", schreibt der Corriere dello Sport in seinem Kommentar nach dem 1:1 gegen die Schweiz, und da kommt natürlich viel zusammen. Das Unentschieden im römischen Showdown, der die bösen Geister hätte vertreiben sollen, schicke die Azzurri in die "Finsternis des Playoffs", nimmt La Repubblica schon unheilvoll und kulturpessimistisch vorweg. Passiert ist noch nichts, aber die Finsternis ist zum Leitmotiv geworden. Alles weg, der ganze Glanz aus dem Zaubersommer.

Nun kann es ja vorkommen, dass eine Mannschaft, die vor weniger als einem halben Jahr die beste Europas war, sich selbst verloren geht. Titel lockern bekanntlich die Spannung, Applaus ist der Vorbote der Selbstgefälligkeit. Aber gleich so? Die Italiener spielten langsam und unpräzise, vor allem das Mittelfeld: völlig überpowert von den Schweizer Gegenparts, die sich je einen Italiener vornahmen. Manuel Locatelli, Held des 3:0 gegen die Schweiz bei der EM im Juni, selber Ort, selbe Bühne? War nicht einmal ein Schatten seiner selbst. Nicolò Barella? Ging angeschlagen ins Spiel, das sah man dann in jeder Aktion. Und dann war da noch Jorginho, den sie bis vor Kurzem Maestro riefen, als sei er ein Nachfahre Andrea Pirlos, und der noch immer ein bisschen gehandelt wird als möglicher Gewinner des Ballon d'Or für den weltbesten Spieler - er bekommt jetzt einiges ab.

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Jorginho ist ein Balancespieler, einer, der das Gewoge eines Spiels im Zentrum mit ein paar feinen Drehs an den Stellschrauben verschieben und adjustieren kann. Meistens horizontal, selten vertikal. Die Italiener mögen solche Spieler, sie beruhigen das Gemüt. Aufs Tor schießt Jorginho nie, buchstäblich: nie. Außer, wenn der Ball still auf dem Kreidepunkt elf Meter vor dem Kasten liegt. Er ist, was die Italiener einen rigorista nennen, von "rigore", italienisch für Strafstoß: ein gesetzter Penaltyschütze.

Jorginho war weiß im Gesicht, findet Altobelli. Dann entschwebte sein Ball in den feuchten römischen Nachthimmel

Bis zum EM-Finale im Wembley-Stadion gegen England hatte der eingebürgerte Brasilianer im italienischen Nationalteam alle seine Elfmeter verwandelt, sechs nacheinander, immer mit einem neckischen Zwischenhupfer auf halbem Weg. Und seither? Drei vergeben, einen im Elfmeterschießen im Finale der EM mit Zwischenhupfer, dann zwei ohne, einen in Basel gegen die Schweiz und nun wieder einen gegen die Schweiz in Rom - und was für einen, einen Matchball in der 90. Minute. Der Corriere dello Sport beschreibt die Entscheidung des Schiedsrichters so: "Das Glück fiel aus dem Himmel, es hat versucht, uns zu helfen." So zufällig war es, so umstritten auch trotz Videobeweises, ein Geschenk in jeder Hinsicht.

In Jorginhos Gesicht schimmerte ein Zweifel, als er sich den Ball nahm, dieses Bangen vor einer negativen Serie. "Weiß" sei er gewesen, sagt Alessandro Altobelli, eine alte Stürmerlegende, Weltmeister 1982. Der Ball entschwebte in den feuchten römischen Nachthimmel, der rigorista suchte die Schuld im Rasen, war's eine Platznarbe? Dann zog er den Kopf ein. Man müsste verrückt sein, wenn man an ihm festhielte. Vielleicht hätten schon zwei verschossene Elfer nacheinander den Trainer umstimmen können. Sollen. Müssen. Doch Roberto Mancini sagte später: "Jorginho ist unser rigorista, er traute es sich zu, und deshalb war es richtig, dass er ihn schoss." Jeder verhaue mal. Ein Mal? Zwei Mal, drei Mal.

Auch Mancini, der Halbheilige, kriegt nun sein Fett ab. Er habe an Getreuen festgehalten, obschon die ganz offensichtlich nicht in Form waren, manche schon länger nicht, heißt es nun. Die eingewechselten Sandro Tonali und Domenico Berardi jedenfalls waren ihren Kameraden weit überlegen.

Die alten Bilder aus Belfast sind schwarz-weiß, aber ihre Wirkung ist sehr grell

Nun muss Belfast entscheiden, der letzte Spieltag der Gruppe C am Montagabend, die Begegnung gegen Nordirland. Und "Belfast" steht in der Geschichte des italienischen Fußballs wie ein Mahnort. Dreimal war Italien bisher bei einer WM nicht dabei: 1930 wollte man nicht nach Uruguay fahren, das war freiwillig. Das Turnier 2018 in Russland verpasste man, weil man im Playoff gegen Schweden gescheitert war. Und dann war da noch 1958, die WM in Schweden. Für die Qualifikation hätte ein Unentschieden gegen Nordirland gereicht, eine Formalität. Das Team fuhr nach Belfast - und verlor 1:2. Die Zeitungen zeigen Bilder aus jener Zeit, alle in Schwarz-Weiß, in der Wirkung aber sind sie sehr grell.

Um die finsteren Playoffs doch noch zu umschiffen, muss Italien diesmal gewinnen, möglichst hoch, gegen eine harte Abwehr - und hoffen, dass die punktgleichen Schweizer ihr Heimspiel gegen Bulgarien nicht sehr, sehr hoch gewinnen. Das Torverhältnis der Azzurri ist leicht besser als jenes der Schweizer: plus zwei. Aber was heißt das schon? In den italienischen Medien gibt es elaborierte Erklärungen darüber, wer in welchem Fall qualifiziert ist, durchgerechnet für den Montagabend. In manchen Konstellationen wird das Kleingedruckte des Reglements entscheidend sein. Sollten am Ende beide Rivalen ihre Spiele gewinnen und die Schweiz ihren Rückstand bei der Tordifferenz genau wettmachen, dann würde das Tor den Ausschlag geben, das Silvan Widmer vom 1. FSV Mainz 05 in der elften Minute für die Schweiz im Olimpico erzielt hat - wuchtig, aus vollem Lauf.

Mancini sagt, er sei optimistisch. Im Sommer hätte das gereicht, um das Land aufzurichten und anzustecken. Der fröhliche Optimismus des "Mancio" war so etwas wie der Flügelschlag des Glücksvogels. Nun ist auch der weg.

Mario Sconcerti, der Chefkommentator des Corriere della Sera, schreibt es so: "Wenn du normal spielst, bist du ein normaler Gegner. Dann hast du nichts mehr als die Schweiz. Man hat es gesehen: zwei Herbstpartien, beide gingen unentschieden aus. Und du kannst nicht einmal behaupten, dass du glücklos warst." Ein Satz wie eine Schlussbilanz: Hätten die Italiener verloren, zwei Mal, es wäre nicht unverdient gewesen. So normal sind sie geworden, im Herbst nach dem schönen Sommer. "Italia al buio", titelt La Stampa. Italien in der Dunkelheit.

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