Versehrtensport:"Sie werden sehen, was ich noch leisten kann"

Lesezeit: 5 min

Vorbereitung für die Spiele in Düsseldorf: Tino Wesser beim Kugelstoß-Training. (Foto: Sebastian Fieber/Bundeswehr/oh)

Zum ersten Mal werden die Invictus Games für Kriegsversehrte in Deutschland ausgetragen. Unterwegs mit dem Afghanistan-Veteranen Tino Wesser, der in Düsseldorf in drei Sportarten antritt.

Von Ulrich Hartmann, Warendorf

Kugelstoßen ist so eine Sache. Irgendwann macht sich das Gewicht in den Fingern und Gelenken bemerkbar. Die Soldaten maulen ein bisschen. Darüber kann sich die frühere Kugelstoß-Weltmeisterin Christina Schwanitz nur wundern. "Alter, was seid ihr für Mimosen!", ruft sie provokant in die Trainingsgruppe. Für einen Moment herrscht Stille. Dann lachen alle.

Schwanitz, 37, arbeitet in der Bundeswehr-Sportschule im münsterländischen Warendorf mit traumatisierten und kriegsverletzten Soldatinnen und Soldaten. Sie geht nicht übertrieben zimperlich mit ihnen um. "Das wollen wir aber auch gar nicht", sagt Tino Wesser, seit fünf Jahren Mitglied einer Gruppe, die im offiziellen Bundeswehr-Vokabular "Sporttherapie nach Einsatzschädigung" heißt. Der 43-Jährige aus Gutenborn in Sachsen-Anhalt hat keine sichtbaren Verwundungen. Der Therapiesport soll seine Seele heilen und ihn von finsteren Gedanken befreien; "von dem ganzen Blödsinn auf der Festplatte", wie er es manchmal lakonisch nennt. "Dass wir dabei auch lachen können", sagt er, "ist ganz wichtig."

Reiterin bei den Special Olympics
:"Sie wog so viel wie eine Colaflasche"

Bei ihrer Geburt hatte Karen Messmer ein Loch im Herzen, als sie zwölf war, starb ihr Vater nach einem Raubüberfall. Mit 16 Jahren ist die Reiterin nun eine der Jüngsten bei den Special Olympics in Berlin - und steht auch für die größere Idee hinter den Spielen.

Von Korbinian Eisenberger

Um seine Traumafolgestörung zu erklären, benutzt Wesser nur drei Ziffern und acht Buchstaben: "628 Tage Isaf - mehr kann ich dazu nicht sagen." Was genau er zwischen 2010 und 2013 auf der Nato-Mission International Security Assistance Force in Afghanistan erlebt hat und welche Bilder, Gerüche und Geräusche ihm seither nicht mehr aus dem Kopf gehen, das bespricht er mit den Truppenpsychologen der Bundeswehr. Gemeinsam haben sie ihm ein Therapie-Ziel erarbeitet. "Ich will stabiler werden und im Beruf und im Leben Zufriedenheit zurückfinden", sagt er. Als Stabsfeldwebel arbeitet er in der Kaserne in Weißenfels auf der Stube.

Wesser tritt im Sitzvolleyball, Diskuswurf und Kugelstoßen an

Ein paar Mal im Jahr ist Wesser in Warendorf beim Therapiesport-Lehrgang. Zuletzt verfolgte er ein ganz besonderes Ziel. Vom kommenden Wochenende an darf er für Deutschland neben 28 Soldaten, fünf Soldatinnen, zwei Polizistinnen, einem Polizisten und einem Feuerwehrmann an den Invictus Games teilnehmen, die dieses Jahr in Düsseldorf stattfinden, zum ersten Mal in Deutschland. Es ist die sechste Auflage eines internationalen Sportfestes für versehrte und traumatisierte Soldatinnen und Soldaten, aber auch für andere Einsatzkräfte wie Polizisten und Feuerwehrleute. Sie treten dort vor Tausenden Zuschauern an. "Der Gedanke daran", sagt Wesser, "macht mir auch ein bisschen Angst." Die Angst vermischt sich aber mit der Vorfreude und dem Stolz, dabei zu sein. Es wird ein besonderes Erlebnis für ihn und damit ein Meilenstein in seiner Therapie.

Die zu erwartende Lautstärke im Düsseldorfer Fußballstadion am Rhein wird er irgendwie ausblenden müssen. "Da hat jeder so seine Techniken", sagt er: "Atmung, einen inneren Rückzugsort, Musik." Er hat immer seine Kopfhörer dabei. Zur Beruhigung hört er erst Wasserfall- und Naturgeräusche und zur Motivation kurz vor dem Wettkampf dann wummernde House-Musik - basslastig, rhythmisch, energetisch.

Zehn Sportarten mit teils mehreren Disziplinen gibt es bei den Invictus Games. Wesser hat sich für drei entschieden: Sitzvolleyball, Diskuswurf und Kugelstoßen. Das Wegschleudern der schweren Kugeln und Scheiben gibt ihm ein gutes Gefühl. "Ich muss dabei nicht denken", sagt er, "ich kann den Kopf ausschalten, kann loslassen und manchmal auch Aggressionen wegstoßen."

Vor dem Stoß: Tino Wesser in der Konzentrationsphase. (Foto: Sebastian Fieber/Bundeswehr/oh)

Er hat auch das Bogenschießen ausprobiert, aber das ging gar nicht. Der Umgang mit der Sportwaffe war "purer Stress" für ihn. "Das Flitschen der Sehne, das Abschießen des Pfeils - irgendwie hat mich das nach Afghanistan zurückgebracht." Er kann das Bogenschießen bis heute nur aus der Distanz anschauen.

Bestimmte Trigger können bei traumatisierten Soldaten Angst oder Panik selbst in vermeintlich harmlosen alltäglichen Situationen auslösen. Soldaten, die in Krisen- oder Kriegsgebieten tätig waren, berichten von einer Vielzahl solcher Triggerpunkte, die den Alltag erheblich erschweren, phasenweise unmöglich machen. Manche können keine Menschenmengen mehr aushalten, andere keinen Lärm, sogar Grillen ist für viele nicht mehr möglich, weil sie den Geruch von verbranntem Fleisch nicht ertragen.

"Man kann seine Triggerpunkte in der Sportgruppe direkt ansagen, schon bei der Auswahl der Disziplinen", sagt Wesser. Aber auch die Kameraden untereinander bitten sich im täglichen Umgang bei vermeintlich banalen Vorgängen gegenseitig um Unterstützung. Wesser etwa hat die Kollegen gebeten, "bitte immer von vorne auf mich zuzukommen oder mir von der Seite auf die Schulter zu tippen". Nie von hinten.

Vom Einsatz in Afghanistan kam er mit dem Kopf voller schrecklicher Bilder zurück

Er erinnert sich an Zeiten der Unbeschwertheit. Als Jugendlicher hat er Fußball gespielt und den asiatischen Kampfsport Ju-Jutsu gemacht. Er absolvierte eine Lehre als Fließen-, Platten- und Mosaikleger. Mit 19 begann er den Grundwehrdienst, verpflichtete sich als Zeitsoldat, ging nach Afghanistan und kam mit dem Kopf voller schrecklicher Bilder zurück in ein Leben, das nicht mehr das alte war.

Wie ein auseinandergebrochenes Puzzle muss es Stück für Stück neu zusammengesetzt werden. Beim "Sport mit Gleichgesinnten", wie Wesser die Therapiegruppe in Warendorf nennt, "zeigt man mir nicht, was ich alles nicht kann - sondern wie gut ich bin". In diesem Umfeld zähle der Mensch, nicht der Dienstgrad. "Hier sind wir alle gleich", sagt er. Es sind Gefühle der Gemeinschaft, des Respekts und der Anerkennung, die zur Genesung beitragen. Die Soldaten sprechen hier von ihrer "Krankheit". Die Sporttherapiegruppe, sagt Wesser, "ist ein geschützter Raum".

In diesem lindernden Umfeld geht es darum, wieder einen Selbstwert zu spüren, Stolz auf sich und die Leistung zu entwickeln. Diese Gefühle übertragen sich daheim auch positiv auf die Familienmitglieder. Während der Invictus Games wird Wesser jeden Tag ganz eng von seinem Vater und seiner ältesten Tochter begleitet. "Family and Friends" heißt dieses Programm, weil die Familien für die Therapierung der Soldatinnen und Soldaten so wichtig sind. "Das wird sehr emotional für mich", sagt Wesser, "denn sie werden sehen, was ich noch leisten kann."

Gründer Prinz Harry und seine Frau Meghan kommen nach Düsseldorf

Um Auszeichnungen oder Siege geht es ihm bei den Invictus Games nicht. "Ich muss keine Medaille gewinnen, ich trage schon durch meine Teilnahme dort gefühlt eine um den Hals." Für Wesser ist es ein Triumph, dabei sein zu dürfen bei jenem Sportfest, das der selbst kriegserfahrene britische Prinz Harry initiiert hat und das 2014 erstmals in London ausgetragen wurde sowie seither in Orlando, Toronto, Sydney und Den Haag. Und nun in Düsseldorf. Harry und seine Frau Meghan sind als Gäste angekündigt. "Home for Respect", lautet der Untertitel des Sportfests. Respekt ist ein wichtiges Wort auch für Wesser, er benutzt es häufig.

Prominente Besucher: Prinz Harry, der die Invictus Games 2014 initiierte, und seine Frau Meghan sind für die Spiele in Düsseldorf angekündigt. (Foto: ANP/Imago)

In der Therapie lernt er, das Erlebte zu akzeptieren und nicht alles in Trauer und Traurigkeit untergehen zu lassen. "Es war nicht alles schlecht in den Einsätzen, es gab auch gute Zeiten", kann er mittlerweile sagen. "Wenn mich jetzt jemand vor die Wahl stellen würde: Ich würde meine komplette Festplatte nicht löschen wollen." Er könne mittlerweile differenzieren. Er sagt: "In der Therapie bekommt man einen Weg aufgezeigt, und auf diesem Weg bin ich schon sehr weit."

Ein markanter Punkt dabei sei gewesen, als er im vergangenen Jahr die Zusage bekommen hat, an den Invictus Games teilnehmen zu dürfen. "Das ist eine ganz besondere Wertschätzung für mich", sagt er, "damit hat man mir signalisiert: Du bist schon weit, aber gehe deinen Weg unbedingt weiter!" Das hat er fest vor. Auch und erst recht, wenn die Invictus Games wieder vorbei sind.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusFriedhelm Julius Beucher
:"Ich habe groß das Wort Friede geschrieben"

DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher über sein Fazit der Paralympics während des Krieges in der Ukraine, die Bedeutung der deutschen Erfolge und seine Kritik an den Veranstaltern.

Interview von Sebastian Fischer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: