Viertelfinale der Fußball-WM:Marokko triumphiert - und Ronaldo weint

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Cristiano Ronaldo durfte gegen Marokko in der zweiten Hälfte auch mitspielen - doch am Ende blieb er traurig zurück. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Außenseiter Marokko wird zu einem undurchdringlichen Betonblock und steht als erste afrikanische Mannschaft im WM-Halbfinale. Portugal und Cristiano Ronaldo verschwinden unter Tränen aus dem Turnier.

Von Javier Cáceres, al-Chaur

In den Tagen vor dem Viertelfinale zwischen Marokko und Portugal war weltweit vor allem von Cristiano Ronaldo die Rede, dem Kapitän der Portugiesen. Und im portugiesischsprachigen Raum: von König Sebastian I., auch genannt: Sebastian, der Ersehnte. Im Jahr 1578 versuchte König Sebastian I., einen Traum in die Realität umzusetzen: Marokko zu erobern. Er zog mit 18 000 Mann nach Nordafrika. Und verschwand mit ihnen in der Wüste. Am Samstag verschwand Portugal aus dem Turnier wie einst Sebastian I. Durch ein einsames Tor von Youssef En-Nesyri, das die Marokkaner mit Geschick, Aufopferung und Verstand über die Bühne brachten.

"Wir haben Geschichte für Afrika geschrieben. Afrika ist auf der Landkarte des Fußballs", sagte Marokkos Nationaltrainer Walid Regragui voller Pathos: "Wir haben unser Kapital genutzt, wir waren ein Team, wir hatten die Mentalität."

Anders war das bei der Mannschaft von Portugals Trainer Fernando Santos: "Die Spieler wollten, aber wir konnten unsere Stärken nicht voll ausspielen, auch wenn wir Torchancen hatten." Verteidiger Pepe ärgerte sich über den Schiedsrichter: "Sie kommen in der ersten Halbzeit einmal vor unser Tor und treffen. Jeden unserer Spielzüge haben sie mit Fouls unterbrochen, aber der Schiedsrichter hat kaum eingegriffen." Die zweite Halbzeit sei ähnlich verlaufen: "Der Torwart verzögert das Spiel, viele kleine Fouls, aber der Schiedsrichter gibt keine Gelbe Karte."

Ronaldo dagegen weinte, als er den Platz verließ: Er wird nie Weltmeister werden. Und seine Nemesis, der Argentinier Lionel Messi, ist immerhin noch im Turnier.

Das einzige Gegentor war ein Eigentor, das erklärte die Reaktion von Cristiano Ronaldo auf der Ersatzbank

Von allen Viertelfinalpartien war dies fraglos die Begegnung mit der klarsten Rollenverteilung. Portugal war, auch ohne Ronaldo in der Startelf, der eindeutige Favorit. Marokko: der Außenseiter. Die Partie begann entsprechend, mit einer großartigen Kopfballchance für Portugals João Félix (4.). Marokkos Torwart Yassine Bounou, genannt Bono, parierte den Aufsetzer mit Bravour.

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Danach entwickelte sich die Partie so, wie es in Anbetracht vorheriger Aufführungen der Marokkaner erwartet werden musste. Zumindest weitgehend. Die Portugiesen schoben sich den Ball zu, ließen ihn kreisen und dürsteten nach Wegen, die Abwehr der Marokkaner zu überwinden, die sich in der bewährten 4-1-4-1-Formation präsentierte. Fast schon wie die Spanier, die von Marokko im Achtelfinale im Elfmeterschießen geschlagen worden waren. Doch die Marokkaner bügelten alles weg. Hätte es nicht noch einen abgefälschten Schuss von Félix gegeben (31.), der über die Querlatte flog, so hätte man davon sprechen müssen, dass kaum etwas geschah. In einer Hinsicht aber waren die Marokkaner anders gepolt als gegen die Spanier. Sie zeigten ein größeres Interesse, die gegnerische Hälfte zu besuchen. Es war zwar nur um Nuancen größer. Aber immerhin. Und vor allem: Es trug kurz vor der Halbzeit Früchte.

In der 42. Minute schlug Yahia Attiyat Allah von links eine Flanke vor den Fünfmeterraum, und Diogo Costa, Torwart Portugals, sprang mit hochgereckten Armen dem Ball entgegen - und sah sich düpiert. Sevillas Stürmer Youssef En-Nesyri sprang hoch wie weiland der chilenische Mittelstürmer Iván Zamorano - und drückte den Ball mit der Stirn zum 1:0 ins leere Tor. Das Stadion Al-Thumama, das nicht ganz ausverkauft war, verwandelte sich in einen einzigen, langgezogenen Schrei. Und das hieß: Der dritte Einzug Portugals in ein WM-Halbfinale (nach England 1966 und Deutschland 2006) mutete an wie eine Fata Morgana. Und der erste Halbfinaleinzug einer afrikanischen Mannschaft überhaupt war zum Greifen nahe.

Der Grund: Kein Team hatte es geschafft, zu einem derart undurchdringlichen Betonblock zu werden wie Marokko. Im ganzen Turnier hatte das nordafrikanische Team einen einzigen Treffer hinnehmen müssen. Es war ein Eigentor. Das erklärte die Reaktion von Cristiano Ronaldo auf der Ersatzbank. Er weitete die Augen, spitzte die Lippen und stieß einen Atemzug aus.

Portugals Trainer Fernando Santos wartete noch ein paar Minuten, dann brachte er Ronaldo für Rúben Neves (und João Cancelo für den Dortmunder Raphaël Guerreiro). Unter den Pfiffen der marokkanischen Anhänger.

In der 83. Minute lenkte Torwart Bono einen Schuss von João Félix über die Querlatte

Die Portugiesen begannen den Strafraum der Marokkaner stärker zu bedrängen als zuvor. Gonçalo Ramos versuchte sich, aber er hatte sein Pulver gegen die Schweiz (drei Tore) offenkundig verschossen. Ein Schuss von Bernardo Silva vom Strafraumrand ging drüber. Santos warf immer neues Dynamit aufs Feld - Rafael Leão und Vitinha kamen -, doch die Statik der marokkanischen Defensive wackelte nicht. Im Gegenteil, ihre letzte Linie verbreiterte sich mit jeder Sekunde, die verging: Aus der Vierer- wurde eine Fünfer- und mitunter eine Sechserkette. All diese Ketten hatten etwas gemein: Die Geschichte ihres Fußballs um einen Epos zu bereichern. Das Epos von Al Thumama.

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Alle wirkten daran mit, allen voran Bono, der Torwart, der einen Ball unter sich vergrub und dort wieder wegklatschte, und Sofyan Amrabat, der auf dem Rasen so omnipräsent war wie der immer stärker werdende Geruch der Sensation. Vor allem nach den verletzungsbedingten Auswechslungen von Kapitän Romain Saïss, Hakim Ziyech und Sofiane Boufal. Das waren so ziemlich die stärksten Kräfte Marokkos. Doch es blieben ihnen die Hände von Bono, die zu heiligen Händen wurden: In der 83. Minute lenkte er einen Schuss von João Félix über die Querlatte, der auf dem besten Wege in den Winkel war. Und Bono rettete wieder: bei einem direkten Flachschuss aus vollem Lauf von Ronaldo, als die achtminütige Nachspielzeit gerade angebrochen war.

Kurz danach verloren die Marokkaner Walid Cheddira - wegen einer gelb-roten Karte (90.+2), die er für ein Foul an Félix sah. Dann geschah fast noch ein Wunder: Die ausgelaugten Marokkaner hatten einen Matchball, als Zakaria Aboukhlal nach einem Befreiungsschlag von der Mittellinie allein aufs Tor lief - und Diogo Costa, den tragischen Helden der ersten Halbzeit, anschoss. Einen einzigen Schreckmoment hatten die Marokkaner zu überstehen: Als Pepe neben das Tor köpfte. Doch dann war, wie gesagt, Portugals Nationalteam verschwunden wie einst König Sebastian I. in der Wüste. Und Ronaldo weinte.

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