Niederlage gegen Saudi-Arabien bei der WM:Argentiniens größte Blamage seit 32 Jahren

Lesezeit: 4 min

Komplett bedient: Lionel Messi (rechts) und Ángel Di María nach dem Schlusspfiff. (Foto: Antonin Thuillier/AFP)

Der WM-Favorit unterliegt im Auftaktspiel gegen Saudi-Arabien überraschend mit 1:2. Lionel Messi verliert entscheidend den Ball - und ein Saudi trifft auf messianische Weise.

Von Javier Cáceres, Lusail

Vor dem bislang letzten Mal, als Argentinien Weltmeister wurde, gab der damalige Nationaltrainer Carlos Salvador Bilardo seinem Team klare Instruktionen, was das Gepäck betraf. Sie sollten einen Anzug und ein Bettlaken einpacken: "Den Anzug für den Fall, dass wir Weltmeister werden. Das Laken für den Fall, dass wir in der ersten Runde ausscheiden und nach Saudi-Arabien auswandern müssen." Das Exil in Saudi-Arabien wurde verhindert: Diego Maradona führte Argentinien in Mexiko zum zweiten WM-Titel der Geschichte.

Und damit zurück zur Gegenwart: Noch stehen bei der laufenden WM zwei Vorrundenpartien aus, gegen Mexiko und Polen. Aber die Nachfolger Maradonas sollten sich, falls sie keine Laken eingepackt haben, schon mal nach den Preisen erkundigen. Sie verloren am Dienstagmittag - nach zuvor 36 Spielen hintereinander ohne Niederlage - als aktueller Copa-América-Sieger in Lusail gegen Saudi-Arabien trotz 1:0-Führung mit 1:2 und bescherten ihrem Land die größte Blamage bei einem argentinischen WM-Debüt seit dem 0:1 gegen Kamerun in Italien, im Sommer 1990. Es war eine Demütigung, die so groß war wie das 1:2 Deutschlands gegen Algerien bei der WM in Spanien 1982. Oder Deutschlands 0:2 gegen Südkorea bei der WM 2018 in Russland. "Dies ist sehr bitter", sagte Lionel Messi nach dem Spiel. "Die Leute müssen weiter vertrauen."

Überglückliche Saudis: Mit diesem Start konnten die Spieler, hier Abdulellah al-Malki, kaum rechnen. (Foto: Catherine Ivill/Getty Images)

Die Geschichte, sie war am Dienstag präsent im Lusail-Stadion. Als Argentiniens Team, angeführt von Messi, zum Aufwärmen auf den Platz lief, ertönte aus den Boxen das "La mano de Dios", eine Hommage des Cuarteto-Sängers Rodrigo an Maradona. Tausende argentinische Fans stimmten ein in den Refrain: "Maradó, Maradó ..."

Doch es war nicht das, was dem Vormittag in Lusail WM-Flair verlieh. Sondern das ausgiebige Gesangsbuch der argentinischen Fans, das voller Anspielungen auf Maradona und dessen Eltern war: "... und wir können sehen/wie Diego im Himmel/mit Don Diego und der Tota/Lionel anfeuert." Lionel? Ja, Lionel Messi, der zu seiner fünften und mutmaßlichen letzten WM antrat und hernach sagte, dass ihn die Niederlage mit "Bitternis" erfülle. "Wir leben noch. Wir haben es in der eigenen Hand - und müssen jetzt zeigen, dass wir eine geeinte Gruppe sind", ergänzte Messi.

Ausgerechnet ein Ballverlust Messis löst den Treffer zum 1:1 aus

Am Tag nach dem Armbinden-Fiasko der Europäer liefen Messi & Co. mit einem Aufwärmshirt auf, dessen Ausstatter-Logo mit einem Regenbogen verziert war. Was man nun auch nicht weiter verklären sollte, zumindest nicht im Falle Messis. Er steht, wie das Online-Magazin The Athletic am Dienstag berichtete, auf der Payroll des Tourismusverbandes des betont homophoben Saudi-Arabien.

Der millionenschwere Kontrakt hielt Messi nicht davon ab, seiner patriotischen Pflicht nachzukommen. Kaum, dass die Partie begonnen hatte, prüfte er den übrigens ziemlich sagenumwobenen saudischen Torwart Mohammed al-Owais. Er wurde bei einem Schuss Messis seinem Ruf als glänzender, elastischer Keeper gerecht. Einige Minuten später wurden die Saudis dann aber Opfer des Videoschiedsrichters VAR, der bei einem Eckstoß ein Foul von Saud Abdulhamid an Leandro Paredes entdeckt hatte: Elfmeter! Messi verwandelte zur 1:0-Führung.

Was folgte, war eine Mischung aus nur selten gesunder saudischer Härte, argentinischem Phlegma, dem Druck des WM-Debüts - und drei weiteren Interventionen des VAR. Er annullierte drei argentinische Tore wegen Abseits - eins von Messi und zwei von Lautaro Martínez. Womöglich wog es die Argentinier in Sicherheit, dass sie anscheinend mühelos zu Chancen kamen. Vielleicht war es die ungewöhnliche Anstoßzeit, die so gar nicht den handelsüblichen Schichten von Fußballprofis entspricht. Und die Trainer Lionel Scaloni vor dem Turnier Unbehagen bereitete.

In jedem Fall gelang den Saudis zu Beginn der zweiten Halbzeit Sensationelles - sie verwandelten das Lusail-Stadion in einen einschüchternden Koloss, der es an Lautstärke mit dem Dragão-Stadion zu Porto bestens aufnehmen konnte. Auch nach dem Spiel herrschte ausgelassene Freude: "Kalnahum!! Kalnahum!!", riefen die saudischen Fans und schwenkten ihre grünen Fahnen: "Wir haben sie gefressen!" Saudi-Arabiens Trainer Hervé Renard sagte: "Wir haben saudische Fußballgeschichte geschrieben. Das wird für immer bleiben."

Argentinien enttäuscht und findet nie zu klaren Ideen

Ausgerechnet ein Ballverlust Messis im Mittelkreis löste das 1:1 aus. Ein gewisser Firas al-Buraikan legte einen langen Ball ab auf Saleh al-Sheri, und der traf ins lange Eck (48.). Fünf Minuten später besorgte der saudische Zehner Salem al-Dawsari, der sich mal ein halbes Jahr beim FC Villarreal in der spanischen Liga versuchen durfte, das 2:1. Auf messianische Art und Weise: Er zirkelte den Ball vom Strafraumrand in den rechten oberen Winkel. Sein Jubel war ähnlich spektakulär: Er stand einen Flickflack sehr gekonnt. "Es waren ihre beiden einzigen Schüsse aufs Tor", sollte Argentiniens Coach Scaloni später sagen. "Eine Fatalität", sekundierte Mittelfeldspieler Alejandro "Papu" Gómez.

Schreckmoment: Verteidiger al-Sharani muss nach einem Kopftreffer aus dem Stadion getragen werden. (Foto: Juan Mabromata/AFP)

Argentiniens Trainer Lionel Scaloni wechselte, was das Reglement hergab. Doch so sehr sich seine Mannschaft mühte, sie fand gegen die vom französischen Coach Hervé Renard blendend eingestellte saudische Mannschaft nie zu klaren Ideen. Die Argentinier liefen insgesamt zehn Mal ins Abseits. Die größte Chance - Nicolás Tagliafico in der 63. Minute - war eher einem Zufall geschuldet, später kam noch Lionel Messi zu einem Kopfball, den al-Owais hielt. Später, als die achtminütige Nachspielzeit anbrach, gab es noch einmal Gefahr durch Messi - nach einer nicht geglückten Abwehraktion von al-Owais. Doch am Ende trat Messi nicht mal mehr die Freistöße. Was Fragen nach seinem physischen Zustand aufwarf. Womöglich ist sein Knöchel stärker lädiert, als er am Vorabend vor der Presse eingestehen wollte.

Am Ende gab es dann fast noch ein Drama: Bei einer Rettungstat erwischte Torwart al-Owais seinen Verteidiger al-Sharani brutal mit dem Kopf an der Schläfe. Al-Sharani muss bewusstlos gewesen sein, etwas später konnte er dann aber doch aufstehen. Und konnte vielleicht sogar lakenbedürftige Argentinier mit Tipps versorgen: Der Großmarkt Lulu ist in der asiatischen und arabischen Welt weit verbreitet. Und vergleichsweise günstig. Sofern er nicht, wie viele seiner Kameraden, damit beschäftigt war, niederzuknien, die Stirn in den Rasen zu bohren und Allah zu danken.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusCristiano Ronaldo bei der WM
:"Fragt nicht mehr nach mir. Es langweilt langsam"

Angeblich alles aus dem Zusammenhang gerissen: Ronaldo gerät vor Portugals Auftaktpartie gegen Ghana in die Defensive - er muss sein Verhältnis zu Mitspielern erklären und antwortet genervt.

Von Javier Cáceres

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: