Einwürfe! Joachim Löw hatte nach dem Testspiel gegen Lettland extra noch davor gewarnt, denn da hatte seine Mannschaft ein Gegentor nach dieser eigentlich ungefährlichsten aller Standardsituationen bekommen. Und nun: Schon wieder. 20. Minute, Einwurf Benjamin Pavard, kein Zugriff der Deutschen, schon gar nicht auf Paul Pogba, der lässig mit dem Außenrist auf den in München arbeitenden Lucas Hernández spielt, der an Mats Hummels' Schienbein schießt und da war es passiert. 1:0 für den Weltmeister und wenn es etwas gibt, was noch unangenehmer ist, als gegen Frankreich zu spielen, dann gegen Frankreich in Rückstand zu spielen.
Das Eigentor von Mats Hummels, es war unglücklich und für das Ergebnis maßgeblich, aber es war schon direkt nach dem Spiel am Dienstagabend kaum noch Thema. Weil jeder gesehen hat, dass Hummels nichts dafür konnte (Löw: "Das ist Pech") und weil man vielmehr so herrlich darüber diskutieren konnte, ob das jetzt nun eigentlich ein gutes oder kein so gutes Spiel der deutschen Mannschaft war.
"Es war ein Zweikampf der Titanen", sagt Didier Deschamps
Die beiden Trainer, Joachim Löw und Didier Deschamps, deren Fachkompetenz sich daraus erschließt, dass sie die letzten beiden Weltmeisterschaften gewonnen haben, waren sich jedenfalls einig in der Bewertung der Spielqualität. "Es war ein Zweikampf der Titanen", sagte Deschamps. Das Spiel, laut EM-Plan das erste Vorrundenspiel der Gruppe F, hätte auch ein "Halbfinale oder Finale" sein können. Löw nannte es, wie es seine Art ist, weniger lyrisch ein "ein extrem intensives, spannendes und sehr, sehr gutes Spiel von beiden Mannschaften".
Es war tatsächlich ein Match, das zeitweise eher an die abgespielten Abläufe im Vereinsfußball erinnerte. Aber während die Deutschen so wirkten, als würden sie in dieser Formation zum ersten Mal so zusammen spielen (tatsächlich spielten sie nach dem Lettland-Spiel zum zweiten Mal in dieser Formation so zusammen), ist Frankreich ein präzises Räderwerk, ein astreines Trainerteam, bei dem sogar ein den Extravaganzen zuneigender Spieler wie Pogba strengstens den Vorgaben zu folgen hat.
Von Beginn an baute die Équipe Tricolore mit ihrem speziellen 4-3-3 eine massive Bastion in München auf, die schon in Russland niemand knacken konnte. Dabei bilden die drei Mittelfeldspieler Pogba, N'Golo Kanté und Adrien Rabiot die Mauer vor der Mauer und wenn ein Ball so unglücklich ist und sich bei ihnen verfängt, wird er sofort auf den nicht zu haltenden Kylian Mbappé geschickt. Mats Hummels klärte in einer dieser Situationen noch mit einer Grätsche fürs Grätschenmuseum (78.).
Frankreich kann so den Gegner ohne Ball dominieren, eine teuflische Taktik, die den höchsten Anforderungen im Sport genügt: Man kennt sie - und kann trotzdem nichts dagegen tun. So wurde Frankreich Weltmeister, oder wie Löw später der Pressekonferenz präzisierte: "Weltmeister im Verteidigen".
Man konnte dem Bundestrainer dabei beobachten, wie ihn dieses enervierende Defensivsystem noch nach dem Spiel quälte. Es sei sein Plan gewesen, über die offensiven Außenverteidiger Joshua Kimmich und Robin Gosens die Mauer zu umspielen, ohne in Konter zu laufen. Der Bundestrainer stellte dafür genau so auf, wie man es erwartet hatte, hinten mit Dreierkette und im Mittelfeld Toni Kroos und Ilkay Gündogan, bei denen vor allem Kroos sich offenbar vorgenommen hatte, es allen Kritikern zum hundertsten Mal zu zeigen - er gewann an diesem Abend mehr Defensivzweikämpfe als vermutlich in einer ganzen Saison mit Real Madrid.
Der Plan mit den Außenverteidigern klappte auch ganz gut - nur was tun, wenn der Ball dort ist? Vorne rochierten Serge Gnabry, Thomas Müller und Kai Havertz, aber sie verloren sich im blauen Dickicht, vor allem Havertz, der den Vorzug vor Leroy Sané bekam. Was wieder das älteste und vermutlich drängendste Problem der Nationalmannschaft in den Fokus rückt: Die fehlende Durchschlagskraft im Sturm. Auf der Tribüne schaute Miroslav Klose zu, wie seine Nachfolger erneut an seiner Nachfolge scheiterten.
Löw weiß, dass auch vier von sechs Gruppendritten weiterkommen
Nur in einem kurzen Zeitkorridor nach der Halbzeit hatten Gnabry mit einem Aufsetzer (54.) und Müller mit einem geblockten Schuss zwei ausgewachsene Chancen auf den Ausgleich, in der ersten Halbzeit konnte man einen Schuss von Gündogan (38.) und ein Ball, der über den Scheitel von Müller rutschte, notieren. Ansonsten verballerten Kroos und später Sané gute Freistöße. Als ein Reporter fragte, ob auch die Ecken möglicherweise nicht ganz so toll waren, verwies Löw auf sein enzyklopädisches Weltfußball-Wissen und sagte, dass Frankreich "in den letzten zwei, drei Jahren die beste Mannschaft im Verteidigen von defensiven Standards", gewesen sei.
Im Gegenzug traf Rabiot noch den Pfosten und Mbappé sowie Karim Benzema im späteren Verlauf aus Abseitsposition und da war man wieder drin in der Debatte: Kann man angesichts eines durchaus möglichen 0:3 und das auch noch zu Hause in München von einem guten Spiel sprechen, wie es Joshua Kimmich ("Ich würde schon sagen, dass wir nicht die schlechtere Mannschaft waren") oder Toni Kroos ("Wir haben ein in meinen Augen gutes Spiel gemacht") taten? Es war ein bisschen wie bei einem Schüler, der mal auf Note 5 stand (Stichwort: 0:6 in Spanien) und nun dank Fleiß und Fortschritten eine 2+ geschafft hat. Aber um mit dem Klassenbesten mithalten zu können, hätte es halt eine glatte 1 gebraucht.
"Es ist ja nichts passiert", sagte Löw mit der ganzen Erfahrung von 15 Bundestrainerjahren. Er weiß, dass auch vier von sechs Gruppendritten weiterkommen und nun geht am Samstag gegen Portugal, die zwar einen Cristiano Ronaldo haben, der auch schnell, aber nicht so schnell wie Kylian Mbappé ist. Leon Goretzka könnte da eventuell eine Option sein, um im Mittelfeld für mehr Power zu sorgen.
Portugal und ihr Trainer Fernando Santos, das zur Erinnerung, haben übrigens die bisher letzte Europameisterschaft in Frankreich gewonnen. Grundlage für den Titel war ein enervierendes Defensivsystem.