Träume haben es so an sich, dass man irgendwann aus ihnen erwacht, nicht selten schon am nächsten Morgen. Der Traum, den der Nationalspieler Dimitri Payet, 29, seinem Land beschert hat, hat immerhin übers Wochenende gehalten. Es war ja auch ein sehr schöner Traum: Payet, der Unverstandene von der Underdog-Mannschaft West Ham United, der nie richtig angekommen war in der Sélection de France, erzielt in der 89. Minute des Eröffnungsspiels dieser Europameisterschaft das entscheidende Tor gegen Rumänien!
Am Montag danach titelte die Sportzeitung L'Équipe allerdings schon wieder: "Die Sorge Griezmann". Und das bisher beste Wortspiel der EM kam von France Football. In Anspielung auf ein Interview, in dem Paul Pogba über seine Ambitionen gesprochen hatte, den "Ballon d'Or" zu gewinnen, die Auszeichnung für den besten Fußballer des Planeten, schrieb das Magazin: "Pogba - le ballon dort." Klingt genauso. Heißt aber: Der Ball schläft.
Im Eröffnungsspiel war nicht nur ihm die Last der Erwartungen anzumerken
Zeit also, endlich den Ball aufzuwecken. Das Traumtor von Payet wäre ja nicht so erlösend gewesen, wenn in den 88 Minuten vorher alles prima gelaufen wäre für die Franzosen. Ist es aber nicht, und daran wird jetzt erinnert. An diesem Mittwoch (21 Uhr) spielt die Elf von Didier Deschamps in Marseille ihr zweites Gruppenspiel gegen Albanien. Danach weiß man mehr.
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Lagen die Schwierigkeiten zum Auftakt an der Last der Erwartungen, an der Anspannung, die ja nicht gerade gering war angesichts all der überwölbenden Themen? Eröffnungsspiele "sind immer kompliziert", hatte Deschamps hinterher beschwichtigt. Und auch der Torschütze Payet hatte von dem gewaltigen Druck gesprochen, der sich in seinem Fall in sehr gewaltigen Tränenströmen entlud. Oder gibt es grundsätzlichere Form- und Abstimmungsprobleme beim Gastgeber?
Im Zentrum der Debatten stehen der Stürmer Antoine Griezmann, 25, und der Mittelfeld-Antreiber Paul Pogba, 23. Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Die Geschichte des Paul Pogba vom italienischen Meister Juventus Turin handelt davon, dass zu viel Talent das Leben manchmal auch kompliziert macht. Pogba gilt als eine der heißesten Mittelfeld-Aktien im Profifußball, groß, athletisch, dynamisch, schussgewaltig - und am Ball zu den erstaunlichsten Kunststücken fähig. Aber weil er das weiß, fehlt ihm häufig der Blick für die einfachen Lösungen.
Er müsste der Elf Struktur geben, gibt ihr aber lieber immer noch eine und noch eine verrückte Idee. "Er ist einer der fünf teuersten Spieler der Welt, aber nicht einer der fünf besten", schreibt France Football, "vor allem nicht in Blau", also im Nationalelf-Trikot. Frankreich ist das Land der Karikaturen, und auch viele Zeichner haben sich dieses Missverhältnisses von Talent und Ertrag schon angenommen. Eine etwa zeigt Paul Pogba, wie er auf einem Fahrradlenker einen Handstand vorführt - und daneben der Nationaltrainer Deschamps, der knurrt: "Paul, die anderen sind seit einer halben Stunde losgefahren."
Im Fall von Antoine Griezmann liegen die Dinge anders. Hätte er beim 2:1 gegen Rumänien eine seiner Großchancen genutzt - einen Kopfball etwa setzte er an den Pfosten -, hätte das manches überstrahlt. So aber blieb der Eindruck, dass ihm eine lange Saison mit Atlético Madrid in den Knochen streckt, mit einer Elf zumal, die von ihrem Trainer Diego Simeone in besonders ferne Grenzbereiche der menschlichen Physis gescheucht wird.
Die Frage ist auch, ob er nicht selbst zu sehr Stürmer ist, um auf dem Flügel Chancen für die eigentliche Spitze Olivier Giroud zu kreieren. Es gibt dazu eine eindrucksvolle Zahl: Dimitri Payet hatte gegen Rumänien sagenhafte acht Chancen kreiert, ein außergewöhnlicher Wert. Der Rest der Mannschaft, inklusive Griezmann, kam zusammen nur auf weitere vier Vorbereitungen.
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Wagt Deschamps gegen Albanien ein Experiment?
Auch bei den Pressekonferenzen der Franzosen in Clairefontaine-en-Yvelines sind Pogba und Griezmann gerade das Thema. Als Blaise Matuidi dort am Montag nach dem Kollegen Griezmann gefragt wurde, versicherte er: "Ich finde ihn stark in Form, und er sagt das von sich auch. Er wird seine Stärken noch zeigen." Pogba? "Er ist ein sehr wichtiger Spieler für uns, seine weiten Pässe sind außerordentlich, er erobert viele Bälle. Er ist in der Lage, außergewöhnliche Dinge zu tun. Das war jetzt nur ein nicht so gutes Spiel von ihm, wir sollten jetzt nicht alles anzweifeln."
Gegen Rumänien wurde Pogba in der 77. Minute gegen Anthony Marcial ausgewechselt, Payet rückte daraufhin vom linken Flügel in die Mitte. Griezmann musste schon in der 66. Minute für Didier Coman vom Feld. Pogba und Griezmann nun gegen Albanien von Beginn an draußen zu lassen, damit tut sich Deschamps naturgemäß schwer - wie sich auch der deutsche Bundestrainer Joachim Löw schwertäte, Mesut Özil und Mario Götze nicht aufzustellen, selbst wenn sie weiter so unauffällig agieren wie gegen die Ukraine. Dem Spiel die größten Ausnahmekönner vorzuenthalten, ist immer ein Risiko - wer sagt denn, dass nicht genau in der nächsten Partie der Knoten platzt?
L'Équipe will allerdings erfahren haben, dass Deschamps genau das plant. Martial und Coman für Pogba und Griezmann, Payet rückt in die Zentrale. Wobei das nur ein Gedankenspiel zu sein scheint, die dazugehörige Schlagzeile lautet: "Deschamps' Kopfzerbrechen". Träumen und sich den Kopf zerbrechen, beides zusammen geht aber schlecht.