Vor zwei Jahren hat es Joshua Kimmich schon einmal getan. Er lief im rechten Mittelfeld los, ein Pass von James Rodriguez erreichte ihn, Kimmich rannte weiter und bog von rechts Richtung Strafraum ein, dann schaute er kurz hoch, und dann ... kann es sein, dass man sich in einem Champions-League-Halbfinale, in einem vollen Stadion, im Vollsprint an Sätze erinnert, die man irgendwann mal entspannt in einem Besprechungsraum gehört hat? Kimmich konnte das.
Real Madrids Torwart Navas würde immer aufs lange Eck spekulieren, das hatten sie im Trainerstab des FC Bayern vor dem Spiel gesagt, also schoss Kimmich aufs kurze Eck. Der Ball war drin, das schöne Tor haben alle gefeiert, die Vorgeschichte kannte keiner. Woher auch? In den Berichten der einschlägigen Portale las sich die Szene dann so: "Der Rechtsverteidiger geht mit großen Schritten in den Strafraum, und als alles mit der Hereingabe zu Lewandowski rechnet, zieht Kimmich selbst ab und überrumpelt den völlig falsch postierten Navas."
Pressestimmen zum Bayern-Sieg:"Wie viel kostet Kimmich?"
Die Medien schwärmen nach dem Erfolg der Bayern gegen Dortmund von Joshua Kimmich, Hansi Flick und der Qualität des Spiels. Die Enttäuschung ist aber groß, dass die Spannung in der Bundesliga nun raus ist.
Am Dienstag hat sich Joshua Kimmich schon wieder erinnert. Beim Spiel in Dortmund hat er wieder kurz hochgeschaut, und dann hat er den Ball über Dortmunds Torwart Bürki gehoben. Der Ball war drin, das schöne Tor haben alle gefeiert, von der Vorgeschichte hat man diesmal immerhin ein bisschen was erfahren. Thomas Müller verriet später, Kimmich habe "so was am Morgen schon angedeutet". Tatsächlich hatte die Mannschaft wieder einen Tipp aus dem Trainerstab bekommen, passt mal auf, Jungs, der Bürki, der steht manchmal sehr optimistisch vor seinem Tor.
Die Mitspieler akzeptieren es, wenn er ihnen manchmal Whatsapps schreibt
Was sagt das alles nun über Kimmich? Es sagt mindestens dreierlei. Kimmich kann zuhören. Kimmich behält den Lernstoff. Und Kimmich kann ihn anwenden, in einem Champions-League-Halbfinale, in einem vollen Stadion, im Vollsprint. Oder in einem Bundesliga-Spitzenspiel, im Getümmel, vor gruseliger Geisterkulisse.
Wer diese beiden Geschichten kennt, der versteht auch mindestens dreierlei. Nämlich, warum dieser Kimmich ein Einser-Abitur gemacht hat. Warum er auf dem Platz vielleicht nicht so superschnell rennt, aber superschnell schaltet und handelt. Und warum er mit 25 Jahren schon ein Team (mit) führen kann, bzw. warum sich ein Team von ihm (mit) führen lässt. "Brutal wichtig" sei das Tor gewesen, sagte Kimmich nach dem Spiel, und nach dem Tor habe er sich "erst mal umgeguckt, ob auch jeder verstanden hat, wie wichtig die drei Punkte sind". Kann ja nicht jeder alles so schnell checken wie er.
Joshua Kimmich ist Sternzeichen Führungsspieler, Aszendent Blitzmerker. So ist sein Naturell, so war er schon immer. Schon in der B-Jugend des VfB Stuttgart hat er beschlossen, dass es doch blöd sei, wenn die Mitspieler beim Essen immer auf ihre Handys starren. Also hat er angeregt, dass es da doch ein paar Euro Strafe dafür geben könnte, natürlich wurde das dann so gemacht. Sieben Jahre später gibt es diese Regel im VfB-Nachwuchsinternat immer noch, sie heißt dort die Kimmich-Regel.
Führungsspieler werden immer gerne genommen im Fußball, auch für Mitspieler sind sie praktisch, weil man ihnen im Zweifel immer mal den Ball und die Verantwortung rüber schieben kann. Führungsspieler zu sein, ist allerdings ein stressiger Job, es reicht ja nicht, intern und extern Führungsspielersätze zu sprechen. Manchmal muss zur Unterstützung der eigenen Glaubwürdigkeit auch ein Ausrufezeichen hinter diese Führungsspielersätze - eines wie jetzt in Dortmund. Von einem, der das mutmaßlich titelentscheidende Tor erzielt, lassen sich die Mitspieler schon mal was sagen. Sie akzeptieren es auch, wenn er ihnen manchmal Whatsapps schreibt, in denen er sie motiviert oder ihre Leistung bewertet, als wäre er ein Trainer im Nachwuchsinternat. Dortmunds Julian Brandt hat das bei der Nationalelf mal erzählt, Serge Gnabry hat es bei Bayern mal bestätigt. Manchmal gibt's Post von Kimmich.
Sollte der FC Bayern nun zum achten Mal in Serie den Meistertitel gewinnen, wäre es in gewisser Weise auch wegen der Kimmich-Regel. Kimmich steht bei Bayern inzwischen für etwas. Der krass ehrgeizige Mittelfeldspieler steht für eine neue Führungskultur in dieser Elf, die ziel- und verantwortungsbewusst ist, auch wenn Trainer Hansi Flick seine Buben manchmal schimpfen muss. Vorigen Mittwoch hat er mal ein Training abgebrochen, es war ihm zu wenig Wettbewerbshärte drin. Ja, die Bayern spielen unter Flick ein sauberes Gegenpressing, aber Flicks entscheidender Beitrag zum Gelingen ist bisher ein anderer: Er hat dieser Elf eine Achse hingebaut, die sie trägt. Um zu begreifen, dass das nichts Selbstverständliches ist, muss man nur eine Halbserie zurückschauen.
"Eine Achse, die nur aus Neuer und Lewandowski besteht, ist zu wenig", das hat Robert Lewandowski in einem SZ-Interview vor dem Hinspiel in Dortmund gesagt, ein gutes halbes Jahr ist das erst her. Und weiter: "In jedem Mannschaftsteil, in jeder Linie sollte es einen Anführer geben. Torwart, Abwehrspieler, einer aus dem Mittelfeld, einer aus der Offensive, das wäre perfekt. Es kann nicht ein Spieler alle führen, das ist zu viel, das ist unmöglich."
Ein halbes Jahr später hat sich Lewandowskis Forderung aufs Wort erfüllt. Als Anführer ist ein Abwehrspieler hinzugekommen, der von Flick ins Zentrum versetzte ehemalige Linksverteidiger David Alaba; es ist einer aus dem Mittelfeld hinzugekommen, Kimmich, der von Flick ins Zentrum versetzte ehemalige Rechtsverteidiger. Und es ist einer aus der Offensive hinzugekommen, Thomas Müller, ein ehemaliger Solitär und Streuner, dessen Pflichtbewusstsein Flick durch die Verabreichung hoch dosierten Vertrauens gestärkt hat.
Es ist offenkundig Flicks Ansatz, erst mal jene Kräfte zu stärken, die schon da sind. Mögliche Zugänge dürfen wissen, dass sie in ein Team mit stetig wachsender Struktur kommen, auch Niklas Süle (sobald er gesund ist) und Thiago (sobald er verlängert) zählen zu Flicks Machtachse. Die Zugänge müssen aber auch wissen, dass es nicht so einfach ist, sich einen Platz in dieser Elf zu sichern. Lucas Hernandez etwa, 80 Millionen Euro schwer, sitzt zurzeit mehr, als dass er spielt, und selbst Leon Goretzka, intern sehr geschätzt, sucht noch nach einer endgültigen Parkposition.
13,73 Kilometer ist Joshua Kimmich im Dortmunder Geisterstadion gelaufen, ein spektakulär guter Wert. "Mit den Fans im Rücken geht das schon", sagte er später. Ja, liebe Neuzugänge, es kann auch lustig sein in München.