FC Bayern gegen Hoffenheim:Blick über die Wolldecke

Lesezeit: 4 min

Auch im Jubel unvergleichlich: Thomas Müller, gegenwärtig Inspirator des FC Bayern, lässt nicht nur Hoffenheimer Gäste staunen. (Foto: Sven Hoppe/AP)

Der Bundestrainer sieht beim 4:1 des FC Bayern als Stadionbesucher starke Auftritte von Müller und Boateng. Muss er die Verjüngungskur des DFB vor der Europameisterschaft korrigieren?

Von Philipp Schneider, München

Der Besuch von Fußballspielen inmitten einer Pandemie ist wahrlich kein Ereignis, für das Eintrittsgeld verlangt, geschweige denn Vergnügungssteuer erhoben werden könnte. Hebt der Zuschauer seinen Blick vom frischen Grün des Rasens, so schaut er auf zehntausende Plastikschalen, ordnungsgemäß hochgeklappt, die oft im tristen Grau gehalten sind.

Aus dem Rund hallen keine Gesänge, es gibt keine Fan-Banner mit flotten Sprüchen, nirgendwo Stadionwurst, und das Gemaule der Profis auf dem Rasen, das sich nun umso besser vernehmen lässt, klingt auch nicht anders als der Sound auf dem Bolzplatz hinter der nächsten Grundschule. Ins Stadion kommt nur, wer wirklich muss. Spieler, Trainer, Schiedsrichter, Journalisten und selbstverständlich der Chef-Greenkeeper auf seinem mächtigen Rasenmäher, der dafür sorgt, dass das Grün auch im Winter weiter satt strahlt.

FC Bayern
:Wieder komplett in der Spur

Der FC Bayern gewinnt gegen Hoffenheim das vierte Bundesligaspiel in Serie und lässt der Liga erstmal keine Chance. Anteil daran hat der neue Maschinenraum aus Joshua Kimmich und Marc Roca.

Aus dem Stadion von Philipp Schneider

Am Samstagnachmittag gesellte sich eine weitere, in der Pandemie eher selten anzutreffende Berufsgattung in die Arena im Münchner Vorort Fröttmaning, wo der FC Bayern die anfänglich frechen Gäste der TSG Hoffenheim am Ende standesgemäß mit 4:1 abfertigte. Eingemummelt in eine dicke, graue Wolldecke saß dort der aktuelle Vertreter der Sparte Homo Bundestrainensis, besser bekannt als Bundes-Jogi, der offenbar beschlossen hatte, angesichts der in diesem Jahr hoffentlich doch noch anstehenden Europameisterschaft seinen Winterschlaf etwas früher zu beenden als gewöhnlich. Schon vergangene Woche saß er im Stadion.

Man weiß nicht genau, weshalb Löw ausgerechnet diesem Spiel beiwohnte. Möglicherweise ausschließlich, um sein Projekt voranzutreiben, die Nationalmannschaft nachhaltig zu verjüngen. Im Anschluss an die Partie traf Löw jedenfalls den überaus talentierten Teenager Jamal Musiala, 17, den sein ehemaliger Assistent Hansi Flick zur besseren Begutachtung netterweise 20 Minuten spielen ließ, als es schon 4:1 stand und die Partie längst entschieden war.

Wintervisite: Karl-Heinz Rummenigge (links) und Bundestrainer Jogi Löw auf der kalten Bayern-Tribüne. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Musiala, Sohn einer Deutschen und eines Nigerianers, der im Alter von sieben Jahren mit seinen Eltern nach Southampton zog, wo ihn der FC Chelsea entdeckte, muss von Löw noch ein bisschen beackert werden. Noch hat er sich nicht entschieden, ob er für Deutschland oder England spielen möchte. "Ich denke, er weiß so oder so, dass ich ihn nominieren will. Die Entscheidung liegt bei ihm", sagte Löw der Bild-Zeitung, bevor er wieder in seinen warmen Dienstwagen stieg.

Möglicherweise aber reiste der Bundestrainer auch mit einer Erkenntnis wieder ab, die sein Projekt, die Nationalmannschaft nachhaltig zu verjüngen, noch nachhaltiger konterkarieren wird. Im Stadion sah Löw live und in Farbe, wie eine Achse der alten Recken Hoffenheim niederspielte, die ihn an jene Achse der mittelalten Recken erinnert haben dürfte, mit der er einst Weltmeister wurde. Ganz hinten hielt Manuel Neuer mit den Reflexen und der Fußarbeit eines Eishockeytorstehers den Hoffenheimer Ertrag in einem erträglichen Rahmen.

Positive Corona-Tests beim FC Bayern
:Eine erstaunlich beiläufige Botschaft

Beim FC Bayern sind die Mittelfeldspieler Javi Martínez und Leon Goretzka positiv auf das Coronavirus getestet worden. Ihr Trainer Hansi Flick erklärt das bei der Pressekonferenz gerade so am Rande.

Von Philipp Schneider

Davor warf sich ein gewisser Jérôme Boateng nicht nur in jede Bresche und gewann nahezu jeden Zweikampf. Anlässlich des hohen Besuchs im Stadion stieg er sogar erstmals seit exakt drei Jahren mit seinem wuchtigen Körper in die Lüfte, um mit seinem Schädel einen von Joshua Kimmich servierten Eckball zum 1:0 ins Tornetz zu hämmern.

Boateng ist 32, weshalb er schon vor zwei Jahren wie Thomas Müller, 31, und Dortmunds Mats Hummels, 32, nicht mehr ins Beuteschema des Bundestrainers passte. Aber Löw kann sich nun gedacht haben: Junge, Junge, der trifft ja wieder wie mit 29!

Den größten Denksport dürfte Löw allerdings Müller bereitet haben. Müller nämlich zeigte wieder einmal alle Bausteine, die ihn zu einem der wundersamsten Fußballer der Geschichte zusammensetzen. Müller kommandierte und brüllte seine Mitspieler wenn nötig aus der Schläfrigkeit. Müller zauberte: Er schlenzte den Ball mit dem linken Fuß in einer derart schönen Kurve gegen die Latte, dass manch Zuschauer sich kurzzeitig gedanklich nach Brasilien verabschiedete. Müller traf!

Und zwar so, wie vielleicht nur Müller trifft. Vor dem 2:0 sprang der Ball kurz auf, dann zirkelte Müller diesen schwierig zu nehmenden Aufsetzer mit einer anatomisch interessant aussehenden Fußhaltung und physikalisch nicht minder spannenden Flugbahn ins kurze Eck. Vor allem aber: Müller riss auch läuferisch mal wieder alle mit.

Zehn Tore und neun Vorlagen steuerte Müller in 19 Ligaspielen zur Bilanz des FC Bayern bei

Schon vor dieser Partie hatte der Trainer Flick den Spieler Müller positiv herausgestellt für einen seiner zentralen Charakterzüge: Wenn der Gegner in Ballbesitz gerät, ist Müller der Erste, der sich auf ihn stürzt und das Überfallkommando orchestriert. Jenseits aller Vorlagen und Tore von Müller ist es genau diese aufopfernde Liebe zum Gegenpressing, die kein Spieler in Löws Truppe bei dem historischen 0:6 gegen Spanien im November zeigte. Kein schreitender Gündogan, kein schleichender Kroos. Unter Löws ehemaligem Assistenten Flick spielt Müller seit Wochen wie vor seiner Ausmusterung aus der Nationalmannschaft. Nein, sogar besser: Zehn Tore und neun Vorlagen hat er allein in 19 Bundesliga-Partien beigesteuert.

Kann ein Bundestrainer die Wolldecke so hoch ziehen, dass er das nicht erkennen muss?

"Da gibt es nichts zu sagen - jetzt!", antwortete Löw leicht genervt, als er angesprochen wurde auf die Frage, ob dieser Herr Müller nicht vielleicht doch einer wäre für die engere Auswahl bei einer Europameisterschaft.

Werden beide den FC Bayern verlassen: Jérôme Boateng (links) und David Alaba. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

An Boateng kommt er vielleicht auch nicht vorbei. Scheint Flick doch gerade mit seiner Innenverteidigung eine alte Weisheit zu widerlegen, die besagt, dass Fußballer auf ihrer Abschiedstournee keine Leistung mehr zeigen. Sowohl Boateng als auch David Alaba dürfen sich ja, Stand jetzt, einen neuen Klub für die Zeit nach dem Sommer suchen. Flick bezeichnet trotzdem beide als "gesetzt" und, noch ungewöhnlicher: Er setzt sie auch. Ungeachtet der Gespräche, die Alaba mit Real Madrid führt.

Und unbekümmert von den Verhandlungen, die die Bayern-Bosse mit Leipzigs Abwehrchef Dayo Upamecano führen. Der 22 Jahre alte Franzose hat einen gültigen Vertrag bis 2023, im kommenden Sommer könnte er RB jedoch dank einer Ausstiegsklausel verlassen. Diese bestätigte Leipzigs Geschäftsführer Oliver Mintzlaff: "Deswegen sitzen wir hier auch nicht mehr im Driver's Seat", sagte er.

In dem sitzt Boateng auch nicht. Aber er spielt seit Wochen so, als wolle er gerne wieder dorthin.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Fußball in Europa
:Und ewig droht die Superliga

Die neuesten Pläne für eine geschlossene Liga von Europas Top-Klubs waren weit gediehen - bis die Verbände sie mit einem scharfen Dekret stoppten. Die Rolle der Fifa bleibt rätselhaft.

Von Thomas Kistner

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: