Chemnitz im Basketball-Europapokalfinale:Understatement auf Sächsisch

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Bei wenigen Sportlern passt diese Beschreibung besser: Jonas Richter (mit Ball) und "seine" Chemnitz 99ers stehen im Finale des Europe Cups - der Flügelspieler spielt schon sein ganzes Leben im Klub. (Foto: Nachtigall/Imago)

Die Niners, das Überraschungsteam der Bundesliga, erreichen tatsächlich das Endspiel im Europe Cup. Dort besteht gegen Istanbul eine historische Chance für den Klub - und es setzt sich ein Trend im deutschen Basketball fort.

Von Jonas Beckenkamp

Die Chemnitzer Messehalle war am Mittwochabend Schauplatz eines Basketballspiels im Europapokal, aber gleichzeitig auch eines Surrealismus. Die Stimmung der 5000 Besucher hatte etwas schwer Greifbares, denn einerseits hatten die heimischen 99ers, Deutschlands Überraschungsteam in dieser Bundesligasaison, gerade 73:82 gegen CB Bilbao verloren - andererseits reichte das dicke, um das Finale des Fiba Europe Cups zu erreichen. Nach einem 98:73-Erfolg im Hinspiel im Baskenland hätte es auch mit dem Teufel zugehen müssen, um die Chemnitzer noch von der größten Chance ihrer Vereinsgeschichte abzuhalten.

Die Spieler der Niners drehten mehrere Ehrenrunden, der Ärger über eine spät vergeigte Partie löste sich langsam, und auch das Maskottchen "Karli" Marx winkte irgendwann vergnügt. Der Plüsch-Philosoph und Chemnitzer Säulenheilige mit dem Denkerbart hat es zu einiger Berühmtheit gebracht, genauso wie die Basketballer der 99ers mit ihrem Ritt durch diese Saison. Nach einem den Leverkusener Fußballern ähnlichen Lauf im Winter mit Siegen in Serie liegen die Sachsen in der Bundesliga immer noch auf Platz zwei.

Basketballer der Chemnitz 99ers
:Längerer Lauf als in Leverkusen

"Für die ganze Region besonders": Die Chemnitz 99ers sind die große Überraschung im deutschen Basketball. Sie siegen und siegen - auch dank guter Ideen in der Nische und Spielertypen wie Jonas Richter.

Von Jonas Beckenkamp

Angesichts der deutschen Branchenriesen München und Berlin besteht die etwas größere Titelchance aber in den beiden Europe-Cup-Endspielen gegen den türkischen Vertreter Bahcesehir aus Istanbul: Am 17. April daheim, eine Woche später in der riesigen Ülker Arena, wo die Chemnitzer als sechster deutscher Basketball-Klub überhaupt einen Europapokal gewinnen könnten. "Schon ein bisschen surreal, dass wir das mit Chemnitz erleben", findet Jonas Richter am Morgen nach dem Spiel gegen Bilbao. Der 26-jährige Kapitän gehört zur Stadt wie das Marx-Monument an der Brückenstraße, er ist hier geboren und hat sein sportliches Leben bei den 99ers verbracht.

Wer ihn fragt, was das alles für die Region, die Leute, vielleicht die ganze Basketballnation bedeutet, dem begegnet höfliche Zurückhaltung: "Es ist bisher eine sehr erfolgreiche Saison und wir haben eine Riesenchance. Aber wir wollen das jetzt nicht auf ein so krasses Podest heben." Understatement auf Sächsisch, so betreiben sie das seit Monaten, bloß nicht schludern, weil die Träume abheben. Die Verantwortlichen wie Geschäftsführer Steffen Herhold verkörpern diese Haltung ebenso wie die Spieler, von denen keiner eine große Nummer ist, die aber als Team bemerkenswert gut funktionieren.

Herhold sagte am Abend nach dem Finaleinzug im MDR: "Wir haben drauf hingearbeitet, uns stetig zu verbessern, um wettbewerbsfähig zu sein." Dass es gelang, "in diesem Wettbewerb im Finale zu stehen, müssen wir erst mal sacken lassen, das fühlt sich krass an". Beim Blick nach vorn geriet er doch etwas ins Schwärmen: "Wir haben eine Hand am Henkelpott, da passiert noch mal was, also alle nach Istanbul, ich war selbst noch nie da!"

Die Chemnitzer Basketballer sind Profis auf dem zweiten Bildungsweg - Spielmacher Lansdowne arbeitete als Maurer

Herhold und der langjährige argentinische Trainer Rodrigo Pastore haben eine Truppe gebastelt, deren besonderer Spirit sich aus den Werdegängen der Akteure speist. Profis auf dem zweiten Bildungsweg, Jungs, die etwas beweisen wollen, der richtige Mix aus coolen Typen und Energiebündeln. Spieler wie Spielmacher DeAndre Lansdowne, 34, der nach dem College erst als Maurer malochte, ehe er mit 26 Jahren in der zweiten Liga in Herten seinen Weg begann. Oder wie Distanzschütze Wes van Beck, 28, der durch die Niederungen der kolumbianischen und estnischen Liga ging. Oder Center Kevin Yebo, 28, zwischenzeitlich mal Zweitligaprofi, der sich zu einem der besten Deutschen der BBL entwickelt hat. Und eben Jonas Richter, der 2,07-Meter-Wühler, der 2023 sogar aushilfsweise zum Nationalspieler wurde.

Eine Entdeckung dieser BBL-Saison: Wesley van Beck, Dreierspezialist der 99ers. (Foto: Nachtigall/Imago)

Er berichtet vom Zusammenhalt bei den Niners, von der Bereitschaft, "den Ball zu teilen", sodass jeder die Chance habe, Würfe zu treffen. Aber auch vom Charakter im Teamgefüge. Die Kollegen seien wahre Trainingsweltmeister, sie rackern und schwitzen, sie verteidigen mit aller Kraft, und verteilen die Last auf viele Schultern. In Zahlen: Gleich sieben Spieler punkten im Europe Cup im Schnitt zweistellig.

Dass dieser Wettbewerb hinter der Euroleague, dem Eurocup und der Champions League nur der vierthöchste ist, stört Richter nicht: "Das ist erst mal zweitrangig, es gehört viel dazu, es hier ins Finale zu schaffen." Ein Titel wäre schon deshalb "Wahnsinn", weil die Ahnengalerie deutscher Europapokalsieger nicht allzu lang ist: Alba Berlin holte 1995 den Korac Cup, Göttingen 2010 die EuroChallenge, der Mitteldeutsche BC (2004) und die Frankfurt Skyliners (2016) jeweils den Europe Cup und Bonn im vergangenen Jahr die Champions League.

Mit Blick auf diese Errungenschaften setzen die 99ers also einen Trend fort: Während die deutschen Topklubs Bayern und Alba auf Euroleague-Level der Konkurrenz aus Spanien, Griechenland und der Türkei hinterher ächzen, tun sich eine Stufe tiefer Erfolgsfenster für den deutschen Basketball auf. In Chemnitz kann dieses Fenster dauerhaft geöffnet bleiben, findet Vereinschef Herhold: "Es soll unsere DNA werden, international zu spielen und auch Endspiele zu erreichen." Das klingt gar nicht mehr so sehr nach Understatement.

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