Während der WM vor sechs Jahren gab es diesen Moment, als Lukas Podolski mit ein paar Begleitern aus dem DFB-Tross in einem Kleinbus am Berliner Olympiastadion vorfuhr, um die Auszeichnung als bester Nachwuchsspieler des Turniers entgegenzunehmen.
Zwei Tage zuvor hatten die Deutschen das Halbfinale in Dortmund 0:2 gegen Italien verloren, nun mussten sie in Stuttgart zum Spiel um Platz drei antreten, ein Auftrag, der ihnen vorkam wie die Verbannung auf eine steinige Insel ohne Wasser und Brot. Als Podolski und die DFB-Leute das Olympiastadion erblickten, den Ort des Finales, kamen ihnen Tränen.
Einige der Hauptdarsteller des beweinten Dortmunder Semifinales gehören immer noch ihren Nationalteams an: Podolski, Schweinsteiger, Klose und Lahm, auch Mertesacker, derzeit Nebendarsteller in der DFB-Auswahl, feiern am Donnerstag das Wiedersehen mit Buffon, de Rossi und Pirlo, dem Mann, der den Deutschen die Tränen brachte.
Von ihm stammte in der 119. Minute das Zuspiel auf den 1:0-Schützen Grosso: Ein kurzer Steilpass in den Strafraum, der ganz einfach aussah und trotzdem die ganze Welt verblüffte - vor allem aber die gesamte deutsche Deckung.
Das ist natürlich noch im Kopf", konzedierte am Montag der damalige wie heutige DFB-Torwarttrainer Andreas Köpke, als er auf die alten Zeiten angesprochen wurde, aber die Macht der Geschichte soll am Donnerstagabend in Warschau keine Bedeutung haben. "Das alles zählt nicht mehr. Auch nicht diese ganzen Statistiken, dass wir noch nie gegen Italien gewonnen haben", verkündete Köpke. Das Team müsse "eine andere Geschichte schreiben".
Pressestimmen zu England gegen Italien:"Hat jemand Lust auf Tennis?"
Schon wieder Elfmeterschießen, schon wieder raus: Die englische Presse geht erstaunlich humorvoll mit dem Scheitern ihrer Nationalelf um - und lobt die Coolness von Andrea Pirlo. Eine italienische Zeitung freut sich über einen "Löffel", in Deutschland sehnen die Boulevardmedien die "Abrechnung" herbei.
Die Vergangenheit interessiert uns nicht", assistierte Spielmacher Mesut Özil. 2012 sei ein anderes Zeitalter. Nach der herrschenden Auffassung im deutschen Team lassen sich die spielerischen und sonstigen Fortschritte seit 2006 nicht mehr in Metern, sondern allenfalls in Kilometern messen, eher aber noch in Megametern und Gigametern.
Dieses Bewusstsein verschafft den deutschen Spielern eine Vorfreude, die man sich früher möglicherweise nicht erlaubt hätte. Italien sei auf jeden Fall schwerer zu bezwingen als England, meint Sami Khedira.
Aber dass der DFB-Elf wegen der chronischen englischen Elfmeterkrankheit die einfachere Übung vorenthalten bleibt, ärgert Khedira keineswegs. Der Gegner Italien garantiere "uns und allen, die zuschauen, ein schöneres Spiel", meint er. Die Besetzung der EM-Halbfinals betrachtet er sogar als eine Geste der höheren Gerechtigkeit: "Jetzt sind nur noch Teams dabei, die Fußball nicht verhindern, sondern spielen wollen."
In früheren Zeiten des zynischen Fußballs hätte man in Italien so ein Lob aus Deutschland womöglich als Beleidigung aufgefasst. Aber die Reformen der Trainer Joachim Löw und Cesare Prandelli sind artverwandt. Italien und Deutschland werden am Donnerstag keine ideologische Kontroverse austragen. Selbst wenn es hinterher wieder Tränen geben wird.