Wenn Kevin Kampl, 28, am Samstagabend im Berliner Olympiastadion aufläuft, um mit RB Leipzig gegen den FC Bayern das Pokalfinale zu bestreiten, werden ihn die Augen einer Frau verfolgen, ohne die es ihn als Fußballer nicht in dieser Form, vielleicht sogar gar nicht gegeben hätte: die Augen seiner Mutter Anica.
Kampl, eine der prägendsten Figuren im Leipziger Spiel dieser Saison, wurde 1990 in Solingen geboren. Als Nesthäkchen eines Ehepaars, das in den 80er-Jahren aus Maribor, Slowenien, nach Deutschland gekommen war, um an Fließbändern den Profit von Firmen zu steigern, die nach deutschem Außenhandelsüberschuss klingen: Haribo, Krups, Moulinex. Sie hätten oft zusammen in der gleichen Firma gearbeitet, erzählt Kampl, Vater Josef mitunter als Maschineneinrichter und damit auch als Chef der Mutter. "Meine Eltern hatten nicht so viel", sagt Kampl. "ich bin in einem Teil von Solingen groß geworden, von dem man vielleicht sogar sagen kann: Ghetto. Viele Blocks, viele unterschiedliche Kulturen, da liefen auch mal in den Straßen Sachen ab, die nicht so sauber waren."
Kampls Weg führte in die Welt des Profifußballs. Auf Umwegen, von denen einerseits noch die Rede sein soll, und von denen man andererseits nach einer nur halbstündigen Begegnung in einem Medienraum der RB-Akademie in Leipzig sagen kann, dass sie ihn nicht verbogen haben.
"Sie hat manchmal nicht einmal Zeit gehabt, richtig was zu essen"
Die Jungs aus dem Block, mit denen er bolzte, treffe er immer noch regelmäßig. Auch wenn das Leben viel dafür tat, um ihre Welten zu trennen, also ihn zum Fußballprofi machte, einen Kumpel zum Metallschweißer und einen anderen zum Angestellten eines Möbelhauses, so respektieren sie einen unausgesprochenen Schwur: ein Mal im Jahr gemeinsam in den Urlaub zu fahren, einander nicht zu vergessen. Niemals. "Ich bin meinen Eltern extrem dankbar. Weil sie mir beigebracht haben, dass, egal wie viel Du hast, egal wer du bist, du immer deinen Weg als guter Junge gehen musst", sagt Kampl.
Umwege hat auch seine Mutter hinter sich, sie fuhr sie für ihn. Kampl schloss sich den "Bambini" des VfB Solingen an, ging aber schon mit sechseinhalb Jahren zu Bayer 04 Leverkusen in die F-Jugend. Anfangs fuhren ihn die Brüder, rund 15 Jahre älter als er, die gut 20 Kilometer zum Training.
Doch irgendwann mussten auch sie arbeiten. Seine Mutter machte mit 50 Jahren den Führerschein, um ihn zum Training zu fahren, und das hieß: dass sie zwischen sechs Uhr morgens und zwei Uhr mittags ihre Schichten in der Fabrik schob, um den Jungen daheim abzuholen und wieder nach Leverkusen zu fahren, manchmal kehrten sie um neun Uhr abends zurück. "Sie hat manchmal nicht einmal Zeit gehabt, richtig was zu essen", sagt Kampl.
Er war talentiert, schaffte es, einer von zwei, drei Spielern seines Jahrgangs zu werden, die es bei Bayer 04 in den Profifußball schafften. Doch der Weg in die erste Elf war zunächst zu weit: An Lars Bender, Gonzalo Castro, Arturo Vidal oder Michael Ballack kam man in Leverkusen nicht so einfach vorbei, schon gar nicht als 18-jähriges Eigengewächs. Und deshalb fiel die Entscheidung, einen Umweg zu nehmen, unter "Verzicht auf sehr viel Geld".
Kampl wollte über die dritte in die zweite und dann in die erste Liga, das war der Plan. Also ging er zum VfL Osnabrück, "wo ich ein Superjahr hatte", dann für kurze Zeit zum Zweitligisten VfR Aalen, um letztlich tatsächlich in einer Bundesliga zu landen. Zunächst allerdings in der österreichischen, bei RB Salzburg. Er wurde dort Doublesieger - im Pokalfinale gewann er in Klagenfurt gegen St. Pölten und traf -, und ging dann zu Borussia Dortmund, um anschließend, wie das Leben halt so ist, wieder in Leverkusen zu landen. Und das muss man wohl eine Bestätigung nennen.
Denn Zweifel daran, dass er es schaffen würde, die hatte er "eigentlich nie".
Auf seinen Umwegen traf er immer wieder auf alte Gesichter, auf Wegbegleiter, die ihn zurückhaben wollten. Weil sie ihn schätzten, als Spieler, als Mensch: Nach Leverkusen holte ihn der Trainer Roger Schmidt, mit dem er in Salzburg gearbeitet hatte; als er 2017 nach Leipzig wechselte, hieß sein Vorgesetzter Ralph Hasenhüttl, der ihn nach Aalen geholt hatte. Sie ließen einen Fußball spielen, der dem der aktuellen Leipziger Stil ähnelt und "perfekt zu mir passt", wie Kampl sagt. "Weil er auf meiner Position viel mit Antizipation zu tun hat, viel mit kurzen Wegen, sprinten, schnellen Ballgewinnen, tödlichen Pässen in die Spitze. Das sind meine Stärken."
Früher sei er offensiver gewesen als jetzt, er kam "über die halbrechte Zehn", also einer Position hinter dem Sturm. Mittlerweile sei er zu "einem reinen 'Sechser' geworden" - und fühlt sich dort wohl: "Ich gehöre eigentlich zum Defensivverbund und arbeite nach hinten besser als früher", sagt Kampl. "Aber ich schalte mich gern in den Spielaufbau ein und versuche weiter, das Spiel nach vorne zu transportieren".
Beim letzten Aufeinandertreffen der Leipziger und der Bayern, am vorletzten Spieltag der abgelaufenen Bundesligasaison (0:0), fehlte Kampl gesperrt. Vor dem Finale von Berlin am Samstag ist allenfalls die Frage, wer neben ihm agieren wird, die Kandidaten heißen Laimer, Demme und Adams. "Die Bayern dürfen nie Ruhe bekommen, das wird sehr wichtig sein für unser Spiel", sagt Kampl, und führt aus, dass dies bedeute, "Ballgewinne in unseren Pressingzonen" zu erzielen, "im Mittelfeld Pässe früh und gut zu antizipieren und dadurch nicht zu weite Wege zum gegnerischen Tor zu haben." Um dann, wenn möglich, einen Pokalsieg zu feiern, und womöglich auch ein eigenes Tor. Im deutschen Wembley, das wäre der Traum.
Er war mal Balljunge, als Real Madrid in Leverkusen spielte
Im echten Wembley, in London, hat Kampl einst ein Tor erzielt, für Leverkusen gegen Tottenham, vor 91 000 Leuten. "Das war ein echtes Highlight", sagt er. Und er gesteht, dass er von solchen Dingen geträumt hat, als Kind, als Fan, der er ja auch mal war. Ursprünglich habe er für Borussia Dortmund geschwärmt, dann kam die Zeit der Leverkusener mit brillanten Brasilianern wie Zé Roberto oder Roque Júnior, die ihn bekehrten, und das verlorene Champions-League-Finale von Bayer in Glasgow 2002 mit dem Tor von Zinédine Zidane, Kampls großem Idol. 2004 sah er ihn und die anderen Galaktischen von Real Madrid tatsächlich live, als Balljunge in der Bayarena. Leverkusen fegte die Beckhams, Figos, Raúls und Ronaldos mit 3:0 davon.
Das Spiel blieb ihm aber nicht nur deshalb unvergessen. Sondern vor allem, weil er Fotos machen wollte. Obwohl er wusste, dass es Balljungen streng verboten war. Er knipste und knipste. Denn so nahe würde er denen nie wieder kommen. Dachte er. Dann ertappte ihn ein Sicherheitsmann, "ein Schrank von Ordner", wie er sagt, bei der Arbeit - und der reagierte, wie manche Menschen reagieren, die eine Uniform und Macht bekommen: Er riss dem Buben die Kamera aus der Hand, und warf sie fort.
Die Fotos: nie gesehen. Die Kamera: auch nicht, nie wieder, sagt Kampl. Es war die Kamera der Familie, und wenn man sich in Erinnerung ruft, woher er stammt, kann man nur ahnen, dass sich seine Eltern ein solches Artefakt nicht jede Woche leisten konnten. "Ich war sehr traurig. Sehr traurig." Doch das war nichts im Vergleich zu dem Schock, den er später erleben sollte, als er bereits slowenischer U21-Nationalspieler war. Sein Berater reiste an und erzählte Kampl, dass sein Vater im Hospital liege. "Mein Vater war ein, zwei Monate in Rente, dann ist das mit dem Bein passiert", sagt Kampl. "Er hatte vorher nichts, war kerngesund, und plötzlich wurde das Bein schwarz. Er ist nicht direkt zum Arzt gegangen, sondern hat gewartet. Trotz der Schmerzen... Und da haben die mir gesagt, dass mein Papa von jetzt auf gleich das Bein amputiert bekommen sollte. Das war totaler Wahnsinn."
Den Vater haben so ziemlich alle Krankheiten ereilt, die man sich vorstellen kann, er hat einen Schlaganfall hinter sich, Diabetes, Lungenkrebs, und er sitzt im Rollstuhl. Es gebe nicht mehr viele Auswärtsspiele, zu denen seine Mutter fahre, es sei halt schwer geworden. Doch am Samstag werde sie da sein, in Berlin.