Den Bullen ganz nah sein. Es führt ja nichts dran vorbei, wer beim Training von RB Leipzig zuschauen möchte, muss einmal am Neubau vorbei, mit seinem riesigen rot-gelben Logo, wie es überall auch auf den Trikots und Schals prangt. Es ist die letzte öffentliche Trainingseinheit vor dem Pokalfinale, man zeigt sich am Dienstag also noch mal den Fans, "auf ausdrücklichen Wunsch der Anhänger", wie Trainer Ralf Rangnick es ein paar Tage vorher formulierte. 22 Grad, 15 Uhr, 500 Zuschauer auf der Tribüne des Trainingsplatzes, hinter dem Neubau mit Logo. Zwei Reihen mit Sitzschalen, darauf Kinder, Jugendliche, viele Frauen, man drängt sich an einer Ecke am Zaun, um Autogramme abzuholen. Nähe zuzulassen ist wichtig, das wissen sie bei RB Leipzig. Ohne Nähe keine Liebe.
Trikots werden an den Zaun zum Unterschreiben gereicht, an manchen hängen noch die Etiketten. "Dankeschön und schönen Gruß an die Frau", schallt es einem Spieler entgegen, "Timoooo" rufen die Kinder. Ralf Rangnick steht für Selfies bereit, das muss man heute auch als 60-Jähriger draufhaben. Alles für die Nähe. Und die ist begehrt in diesen Tagen, am Samstagabend könnte man schließlich nach einem möglichen Finalsieg gegen den FC Bayern zum ersten Mal den DFB-Pokal in die Höhe stemmen. Die Vorstellung von Timo Werner im goldenen Konfettiregen hat die RB-Anhänger so angefixt, dass die 24 000 Karten für Dauerkartenbesitzer und Fanklub-Mitglieder innerhalb von drei Stunden ausverkauft waren.
Die Wünsche sind bei Leipzig-Fans ja grundsätzlich die gleichen wie bei Fans aus anderen Vereinen. Nur das mit der Nähe, das ist anders, denn Nähe gibt es in vollem Ausmaß bei RB Leipzig nur exklusiv.
Die Firmenidentität wird überall sichtbar in Leipzig
Vor so einem Vereinshöhepunkt mal ein Mitglied zu Wort kommen lassen, ist bei RB nicht möglich. Man bedankt sich im Verein für die Anfrage, aber die stimmberechtigten Mitglieder - 17 an der Zahl - seien bisher noch nicht öffentlich aufgetreten und möchten es auch dabei belassen. Die meisten sind mehr mit Österreich verbunden als mit Sachsen, klar, das bringt so eine Anstellung bei Red Bull in den meisten Fällen mit sich. Die, die mitbestimmen können bei RB Leipzig, sind am weitesten von Leipzig entfernt. Damit hat man sich abgefunden unter den Fans, dafür darf man ja auch Fördermitglied werden, für 800 Euro jährlich. Circa 400 sollen es sein, die das momentan bezahlen, um bei den Mitgliedsversammlungen dabei sein zu dürfen. Und dann zuschauen, wie die erlesene Auswahl von 17 Leuten die Entscheidungen für den Verein trifft.
Trainingsgelände am Cottaweg, aus der ersten Etage gucken Teenager aus dem Fenster auf den Hof, unter der Nachwuchsakademie haben sie ein Café installiert, es gibt Fruchtschorle für 3,20 Euro. Hier wird an der Zukunft des Vereins geschraubt, vor zehn Jahren war der Parkplatz noch ein Schotterfeld, ein paar Baucontainer dienten als Umkleiden. Jede Menge Schotter liegt heute noch am Stadion des Viertligisten Lokomotive Leipzig, 20 Fahrradminuten entfernt. Dahinter blüht eine Kleingartenanlage mit Imbiss, Hackepeter-Teller für 5,20, freitags ab 17 Uhr "frische Rot-, Blut- und Knackwurst". Die Flutlichter des Bruno-Plache-Stadions lugen hervor, die 1932 ausgebaute Holztribüne steht unter Denkmalschutz, für die Sanierung fehlt gerade das Geld. Perfekter Ort also für Fußballromantiker, denen Tradition über alles geht. Und die deshalb entschieden gegen Vereine wie RB Leipzig sind.
Doch in Leipzig sind die Dinge ein bisschen anders. "Jeder hat seine eigene Meinung dazu", sagt Heiko Scholz, der in den 1980er Jahren selber noch bei Lok spielte und bis vergangenen Winter dort die erste Mannschaft trainierte, aber insgesamt verfestige sich eben schon der Eindruck: "Mittlerweile hat die Stadt und der ganze Osten RB angenommen." Eine Stadtrivalität ist in Leipzig kaum noch spürbar, zu weit liegen die Vereine sportlich auseinander. "Ich kenne auch viele, die gucken Bundesliga bei RB und ziehen danach ihr blau-gelbes T-Shirt an und sind dann im Herzen wieder Lok- oder Chemie-Fan", sagt Scholz, der mittlerweile Wacker Nordhausen in der vierten Liga trainiert. Samstag Bundesliga-Arena, Sonntag Holztribüne, nur einen T-Shirt-Wechsel entfernt. Die Erfolge, die RB mit den Aufstiegen von der fünften Liga bis zur Champions-League-Qualifikation gefeiert hat, sind für viele so attraktiv, dass sie aus dem Umland anreisen. "RB zieht Leute ins Stadion, die eben auch mal Bayern, Dortmund und Schalke sehen wollen", sagt Scholz, der dafür selber regelmäßig zu RB fährt.
Das Tor zum Trainingszentrum am Cottaweg ist mit den Worten versehen: "Vorsicht, freilaufende Bullen". Die Firmenidentität wird überall sichtbar in Leipzig. Zwei Fanshops gibt es, einen in bester Lage in der Leipziger Fußgängerzone. Jetzt vor dem Pokalfinale prangt Werbung auf Bildschirmen in der Stadt, am Bahnhofsvorplatz begrüßt ein Extra-Stand die RB-Fans, auf einer "Wünschewand" sollen sie ihre Pokalgrüße an die Mannschaft verewigen, daneben eine riesige Dose. Und, na klar: Am Stadiondach prangt das Logo, aus Hunderten Metern Entfernung sichtbar. 2010 hatte sich RB die Namensrechte an dem für die Fußball-WM 2006 neu errichteten Stadion gekauft, 2017 die ganze Arena. Mit durchschnittlich etwa 38 400 Fans war das Stadion in der abgelaufenen Bundesliga-Saison zu 90 Prozent ausgelastet, das ist etwas mehr als der Durchschnitt aller Bundesliga-Stadien. In Leverkusen, Mainz und Wolfsburg lagen die Werte zum Teil deutlich darunter.
In den kommenden Jahren soll die Anzahl der Sitzplätze um fast 10 000 Plätze auf 52 000 ausgebaut werden. Auch das Trainingszentrum möchte RB erweitern, mit den üblichen Maßnahmen. Ein angrenzender Sportplatz wurde bisher von einem anderen Verein gepachtet, der nach österreichischer Geldzuwendung nun wohl drei Kilometer weiter ziehen will. Geld schafft Platz, aber für die andere Seite nicht immer eine Zukunft: Der SSV Markranstädt, der Red Bull 2009 die eigene Spiellizenz verkauft hat, spielte damals in der fünften Liga - und heute in der sechsten.
Flaschen flogen an den Mannschaftsbus, als RB 2009 sein erstes Punktspiel bei Carl-Zeiss Jena bestritt, die Spieler wurden bespuckt und flüchteten aus Angst vor Prügel gleich nach dem Abpfiff in den Bus. RB ist beliebter geworden, konstatieren Studien, doch in den organisierten Fanszenen hat sich das Bild vom Kommerzklubs bis heute nicht gewandelt. "Die Kritik ist nach wie vor da und ungebrochen", sagt Fanforscher Harald Lange von der Universität Würzburg. Zwar könnten viele Fußballbegeisterte die kompetente Arbeit in Leipzig anerkennen, und auch, dass mittlerweile schon drei Nationalspieler von RB kommen, würde das Ansehen steigern. Aber die Kritik am Kunstprodukt bleibe erhalten, Fußball-Fans aus Leipzig würden "belächelt".
Vor allem die, die durch RB die Erfüllung nostalgischer Gefühle spüren und in ihm sogar einen Ost-Verein sehen. "Das wäre ja die Ironie: Wenn ein österreichischer Getränkehersteller Millionen in einen Klub im Osten pumpt, da eine Retorte hochziehen kann - und den Menschen das auch noch verkaufen kann als Ost-Identität", sagt Lange.
Identität, es ist ein großes Thema in Leipzig, auch abseits des Fußballs. Und unter den organisierten Fans gibt es ohnehin auch jene, die kritisch mit dem umgehen, was ihnen vorgesetzt wird. Unter der Saison gab es Protestplakate, weil ein beliebter Fanbetreuer entlassen wurde. Und das offizielle Pokalshirt fand bei manchem Fan wenig Gegenliebe, die Aufschrift: "Beflüüüüügelt ins Finale" ist in Sachen Red-Bull-Vermarktung schon der Holzhammer unter den Werbebotschaften.
Einige Fanklubs haben nun ihre eigenen Shirts entworfen. 200 Anhänger können am Sonntag, nach dem gewonnenen oder verlorenen Pokalendspiel, in einem Sonderzug zurück nach Leipzig fahren. Zusammen mit Spielern und Trainer, das ist der Plan des Vereins. Nähe nach Art des Hauses.