6:0-Sieg der DFB-Elf:"Das ist jetzt der Maßstab"

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Gute Laune: Bundestrainer Hansi Flick (rechts) scherzt mit Einwechselkraft Florian Wirtz. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

La Ola im Stadion, das Publikum ruft Aaah und Ooooh - doch Bundestrainer Hansi Flick fällt die fachliche Einordnung des 6:0-Siegs gegen Armenien nicht ganz leicht.

Von Philipp Selldorf, Stuttgart

An dem Titel "Die Mannschaft" stößt sich ja angeblich die ganze Fußball-Nation; kein Essay, der die Situation des Verbandes und seiner Nationalelf kritisch beleuchtet, lässt diese These aus. Die Produktbezeichnung "Die Mannschaft" gilt als Ausdruck eines ausufernden Marketings, das den wahren und echten Fußball verschlingt und somit den traditionellen Fan auf Abstand bringt. Ein Wunder, dass es nicht bereits Verbotsanträge empörter Bürger vor den Gerichten gegeben hat.

Vielleicht hat also Oliver Bierhoff ein leises Lächeln in den Mundwinkeln gehabt, als er am Sonntagabend das Stuttgarter Stadion verließ. Der DFB-Manager, der durchaus eine Neigung zum schönen Schein hat, wird gemeinhin für den verfemten Slogan verantwortlich gemacht, aber diesmal hätte er sich einen Spaß machen und ihn gegen seine Kritiker richten können. Beim 6:0 gewonnenen WM-Qualifikationsspiel gegen Armenien ist die Nationalmannschaft tatsächlich wie "Die Mannschaft" aufgetreten, wie ein Qualitätsprodukt mit dem international anerkannten Gütesiegel "Made in Germany".

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Die 18 000 Zuschauer erfreuten sich an brillanten Einzelleistungen von sprühend inspirierten Akteuren wie Serge Gnabry, Leroy Sané, Marco Reus und Leon Goretzka, und sie wären am Ende vermutlich in Schwierigkeiten geraten, wenn sie den besten Spieler des Abends hätten benennen sollen. Es waren einfach zu viele, die Nominierungsliste war zu lang. Armeniens spanischer Trainer Joaquín Caparrós stöhnte: "Das Ergebnis sagt schon vieles aus - Deutschland hatte uns gegenüber Riesenvorteile."

Bundestrainer Flick ist schon noch misstrauisch über den Stand der Dinge

Üblicherweise gilt Armenien nicht als adäquater Herausforderer der DFB-Auswahl, am Sonntag saßen die Armenier allerdings dem Irrtum auf, dass sie es sein könnten. Sie waren als seit langem unbesiegter Tabellenführer der Gruppe J in die schwäbische Hauptstadt gekommen, und mit diesem Bewusstsein liefen sie geradewegs in ihr Verderben. "Einen Tick offensiver" als Liechtenstein seien die Armenier gewesen, erklärte Verteidiger Antonio Rüdiger und bewies damit, dass er sich in den Jahren beim FC Chelsea das britische Understatement angeeignet hat.

Liechtenstein hatte es den Deutschen bei deren 2:0-"Erfolg" am Donnerstagabend unmöglich gemacht, Tempo ins Spiel zu bringen und mit Tiefenpässen hinter die Deckung zu gelangen, es gab keinen Platz für Tempoläufe und Tiefenpässe, weil sämtliche Gegner nahe der Torlinie den Strafraum zustellten. Das 100 Meter lange Spielfeld verkürzte sich dadurch auf knappe 30 Meter und eine Hongkonger Verhältnissen ähnliche Bevölkerungsdichte. Die ambitionierten Armenier dagegen ließen im gesamten Rechteck genügend Raum zur Entfaltung eines bilateralen Spielgeschehens.

Somit erhielt die Nationalelf im zweiten Versuch Gelegenheit, Hansi Flicks Vorsätze zur Aktivierung und Beschleunigung des über die Jahre träge gewordenen DFB-Fußballs zu verwirklichen, und dass sie ihre Chance genutzt hat, das bestätigte nicht nur das sehr erfreute Stuttgarter Publikum. Auch Hansi Flick fand es gut, allerdings sprach der neue Bundestrainer Abschiedsworte mit mahnendem Unterton. "Das ist jetzt erstmal der Maßstab", sagte er.

Marco Reus (mi.) ist erfrischt und erfrischend zurück im DFB-Team (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Flick ist schon noch etwas misstrauisch über den Stand der Dinge. Erst die Beschämung nach dem Liechtenstein-Exkurs, jetzt ein halbes Dutzend Treffer mit hohen Schönheitswerten, La Ola im Stadion sowie serienweise verzückte Aaah- und Ooooh-Rufe und ein Musikprogramm wie auf einer exaltierten Silvesterparty. Die fachliche Einordnung unter dem Einfluss solcher Stimmungswechsel sei "immer schwierig", bekannte er lächelnd. Fürs Erste beschränkte er sich daher lieber auf die beweisfähigen Erkenntnisse. Dass dieses Spiel 90 Minuten "einfach Freude gemacht" habe - "nicht mehr und nicht weniger!" -, und dass in diesem Team - La Mannschaft, wie die Franzosen sagen - eine ganze Menge Talent vereint sei. "Wir können mit diesem Kader sehr zufrieden sein, weil wir meinen, dass er eine gute Qualität hat. Heute haben wir's gezeigt", erklärte Flick.

Ein Trainerwechsel verändert oft das Personal einer Mannschaft, obwohl die Beteiligten exakt die selben bleiben, so ist es jetzt auch beim DFB. Marco Reus, 32, schien schon aus dem Betrieb ausgeschieden zu sein, als er im Sommer mit Jogi Löw entschied, nicht an der EM teilzunehmen. Wer zu dieser Entscheidung mehr und wer weniger beigetragen hatte, blieb im Dunkeln. Nun ist Reus wieder da und wirkte sowohl erfrischt wie erfrischend. Mit der Nummer 11 auf dem Rücken verkörperte er einen Zehner, wie ihn sich Flick nur wünschen konnte. "Er hat die letzten Jahre viel Pech gehabt", sagte der Bundestrainer. Die Vorbereitung habe ihm gutgetan, und deshalb freue er sich "ganz besonders, dass er aktuell so fit ist". In dieser Form könnte dem Dortmunder vielleicht doch noch die späte Versöhnung mit seiner verhinderten DFB-Karriere gelingen. Zumindest die WM in Katar sollte er dann noch auf seinem besten Niveau spielen können.

Jonas Hofmann feiert gegen Armenien gleich dreifach Premiere

In der Theorie müsste Flick beim nächsten Turnier in der Lage sein, einen Kader zu bauen, der die Generationen verbindet. Zum alten Zugang Reus kommen die jungen Debütanten David Raum, Florian Wirtz und Karim Adeyemi. Die beiden Letzteren führten sich gegen Armenien mit der Co-Produktion zum 6:0 ein. Der U-21-Europameister Adeyemi, 19, eröffnete daraufhin, er sei "noch geflasht" von seinem Glück, "es ist erstmal Wahnsinn, dass ich hier bin". Ähnlich beseelt äußerte sich der Schütze zum 5:0, Jonas Hofmann, der dreifach Premiere feierte: Als Startelfspieler, als rechter Verteidiger (der zugleich als rechter Flügelmann fungiert) und als Torschütze. "Das war noch ein Punkt, den ich in meiner Karriere unbedingt abhaken wollte", sagte er, was nicht bedeuten sollte, dass hiermit die Karriere beendet wäre.

Gefühlsäußerungen beseelter Neu-Nationalspieler gehören zum überlieferten Begleitprogramm des Nationalteams, zuletzt aber waren diese Momente selten geworden. Flick hat jetzt das Traditionsmotiv wieder ins Programm genommen, ein Anfang ist gemacht. Der nächste Schritt folgt am Mittwochabend, man weiß bloß nicht, in welche Richtung er führt. "Wir haben Island vor der Brust", sagte Flick. Es klang wie eine Warnung.

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