Deutschland im EM-Halbfinale:Was der Elfer-Krimi mit den Deutschen anstellte

Lesezeit: 4 min

Nun gibt es kein Halten mehr: Die deutschen Spieler machen sich nach dem letzten Elfmeter von der Mittellinie aus auf den Weg zum Feiern. (Foto: Federico Gambarini/dpa)

Auf der Klimax des Viertelfinals gegen Italien finden sich die DFB-Kicker plötzlich in ungewohnten Rollen - und sie erleben groteske Momente.

Von Philipp Selldorf, Bordeaux

Im Grunde gibt es ja nichts Schöneres, als im Elfmeterschießen zu gewinnen. Gewinnen ist zwar grundsätzlich nie verkehrt, aber im Elfmeterschießen zu gewinnen, das ist der schärfste aller Nervenkitzel und das höchste aller Vergnügen im Circus Maximus. Am Samstag gegen Mitternacht spitzte sich die Dramaturgie von Sein oder Nicht-Sein auch noch in Überlänge zu, abwechselnd tanzten Italiener und Deutsche am Abgrund, und am Ende rettete Jonas Hector seine Mannschaft mit einem Schuss, von dem er seinen Kindern und Kindeskindern lieber nicht erzählen möchte. Der 18. und letzte Elfmeter war ein beinahe komödiantischer Glückstreffer, der unter Gianluigi Buffon ins Tor rutschte, aber: Es war der Siegtreffer.

Danach brach die Ekstase aus. Wie all die anderen Deutschen hat auch der gesamte DFB-Ärztestab umgehend seine würdevolle Fassung über Bord geworfen, und so sah man diese mit Doktoren- und Professorentiteln geschmückten Männer in naivem Glück umeinanderlaufen, Kusshände ins Publikum werfend wie Schlagerstars, während zum Beispiel Mats Hummels den Chef des DFB-Reisebüros umarmte und den Leibwächter gleich auch noch. Der stille Hector und der übliche Held Manuel Neuer wurden erdrückt von ihren Mitspielern, der schnelle Leroy Sané legte einen 50-Meter-Sprint hin, damit er sich als Erster hineinstürzen konnte. Bloß der Bundestrainer machte sich nach ein wenig distinguiertem Händeschütteln davon. Er wollte "ein bisschen Ruhe haben", sagte er. Höchstwahrscheinlich hat er sich dann drei Zigaretten auf einmal angezündet, es war nicht der Tag, sich das Rauchen abzugewöhnen.

Entscheidende Elfemeterschütze
:Der stille, schlaue Kölner, der nun berühmt werden muss

Jonas Hector ist eine skurrile Erscheinung, er will so gar nicht in den eitlen Fußballbetrieb passen. Selbst das Lob für sein entscheidendes Elfmetertor lehnt er ab.

Von Philipp Selldorf

Diesmal war es wirklich sehr, sehr knapp. Manuel Neuer, das Pik Ass schlechthin in dieser urdeutschen Spezialdisziplin, wahrte seinen Ruf. Mindestens einen Elfmeter hält Neuer ja immer. Doch ansonsten war es, wie sich Verteidiger Benedikt Höwedes höflich ausdrückte, "ein etwas durchschnittlicheres Elfmeterschießen". Die Vorväter der Glückskinder von Bordeaux, die Elfmeter-Sieger von 1982, 1986, 1990, 1996 und 2006, haben weniger Umstände gemacht. Doch der Nimbus bleibt auch 2016 erhalten. Und es wäre, bei aller Klasse der Italiener in dieser an Torszenen armen, aber allzeit knisternden Partie, ein unverdientes Ende für die deutsche Elf gewesen, hätte sie die Lotterie verloren.

Seit dem EM-Endspiel 1976 haben deutsche Nationalteams kein Elfmeterschießen mehr verloren, und nun war Bastian Schweinsteiger nahe dran, der neue Uli Hoeneß zu werden. Aus dem Nachthimmel von Belgrad, in dem Hoeneß' Schuss auf Nimmerwiedersehen verschwand, drohte der Nachthimmel von Bordeaux zu werden. Dabei waren die Schweinsteiger-Portraits in den pathetischen Ölfarben bereits in Auftrag gegeben worden, als er als fünfter Schütze beim Stand von 2:2 zum vermeintlichen Siegtreffer antrat.

Schweinsteiger überrascht mit seiner Entscheidung

Es wäre ein Rührstück geworden: Der Kapitän, bisher mangels geeigneter Physis mit der Rolle des Kurzarbeiters versehen, muss notstandshalber mehr als 100 Minuten durchhalten, weil Sami Khedira nach einer Viertelstunde verletzt das Feld verließ. Er macht kein großes, aber ein tapferes Spiel, nach längeren Läufen pumpt er manchmal wie der Libero auf dem Ascheplatz, doch "reingearbeitet" hat er sich, wie Jogi Löw später lobt. Dann kommt noch die Geschichte mit der Seitenwahl vor der Penalty-Serie. Schweinsteiger gewinnt beide Wahlgänge gegen Buffon, doch er überlässt den Italienern beide Privilegien: das Recht auf den ersten Schuss und die Fankurve als Kulisse hinter dem Tor.

DFB-Elf in der Einzelkritik
:Boateng tanzt Ballett

Der Innenverteidiger sorgt im Strafraum für ein ikonisches Foto, Sami Khedira könnte ausfallen - und Thomas Müller muss sich bei zwei Kollegen bedanken. Die DFB-Elf in der Einzelkritik.

Von Javier Cáceres, Bordeaux

Zweimal fragt Schiedsrichter Kassai nach, ob er das wirklich ernst meine. Später berichtete Schweinsteiger: "Ich habe mal kurz nachgedacht, wie es eigentlich in der Vergangenheit war. Ich kann mich an München erinnern, da haben wir auf die Südkurve geschossen und verloren." Er meinte das 2012 verlorene Champions-League-Finale gegen Chelsea. "Ich kann mich an Madrid erinnern, da haben wir auf Madrids Kurve geschossen und gewonnen. Und auch das erste Elfmeterschießen hier in Frankreich: Schweiz gegen Polen. Da ging es auf die Schweizer Kurve, und die Polen haben gewonnen. Also dachte ich mir: Dann lass uns mal lieber auf die italienische Kurve schießen. Und die italienischen Fans haben sich dann auch gefreut."

Alle erwarteten, dass der erfahrene, schussstarke Schweinsteiger das Drama standesgemäß beenden werde, doch er jagte den Ball nicht wie Hoeneß über die Latte, eher glich dieser Ball einem Luftballon, der in die Nacht schwebte. Vielleicht hatte Schweinsteiger, wie bei der Seitenwahl, an die Vergangenheit gedacht, als er gegen Chelsea den entscheidenden Elfmeter vergab: rechts unten versuchte er es damals, links oben diesmal.

Denken ist gefährlich, wenn man den langen Weg von der Mittellinie zum Strafraum macht. Auch Mats Hummels kämpfte mit seinem Verstand, als er - als Schütze Nummer sechs - aufbrach, um den Ausgleich herzustellen. "Es war nicht mentale Stärke, es war eher mentale Abwesenheit, was da in meinem Kopf los war", erzählte der Verteidiger. Bis dahin hatte Hummels eine nahezu makellose Partie hingelegt, und damit hat er auch nicht aufgehört, als er wegen eines Zwischenfalls im Mittelfeld die gelbe Karte zu sehen bekam. Was bedeutet: Beim Halbfinale wird er fehlen.

Um den Elfmeter hatte er sich aus guten Gründen nicht beworben ("bis ich 15 war, habe ich jeden versenkt, dann habe ich mal einen verschossen und bin etwas unsicher geworden"), doch die Pflicht zwang ihn. Die Zahl der Kandidaten schrumpfte bedrohlich. Prompt fing er an, mit sich zu ringen: "Am Mittelkreis wusste ich, wohin ich schieße, aber das hat sich dann noch ganz oft geändert, bis ich angekommen war. Zwei Sekunden vorher wollte ich noch ins andere Eck schießen, aber den Schuss, den ich dann gemacht habe, den hatte ich gestern noch trainiert und der fühlte sich ganz gut an." Knapp, sehr knapp war es trotzdem - "das wäre eigentlich der Elfmeter zum Ausscheiden gewesen."

Bei Thomas Müller war es nicht knapp. Müllers infam mickriger Schuss nach missratenem Täuschungsmanöver konkurrierte mit den Versuchen von Zaza, Pellè und Schweinsteiger um den Preis der groteskesten Niete in diesem erstaunlichen Wettbewerb. Am Ende weinte Italia herzzerreißend. Müller aber verließ mit einem unverändert frechen Lächeln das Stadion.

© SZ vom 04.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Fußball
:EM-Aus für Mario Gomez

Der Stürmer zog sich einen Muskelfaserriss im Oberschenkel zu. Ob Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira zum Halbfinale fit werden, ist offen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: