Ob Bobby Hull ahnte, was er da in Gang setzt? Der "Golden Jet", die mit Titeln und individuellen Auszeichnungen dick beschichtete kanadische Eishockey-Legende, kam extra aus Ontario nach Bayern gedüst, um am 15. September 1994 dem Start in die Deutsche Eishockey Liga (DEL) etwas majestätischen Glanz zu verleihen. Zum Eröffnungsspiel erwarteten die Augsburger Panther (vormals Augsburger EV) den Meister, die Maddogs (vormals Hedos) aus München. Die alte Bundesliga, ein überfüllter Friedhof zu Tode verschuldeter Vereine, war Geschichte. Die neue Liga, nach dem übergroßen Vorbild der nordamerikanischen NHL aus Gesellschafte(r)n geformt, sollte Wohlstand und Planungssicherheit für alle garantieren.
Man hätte Hull gerne gefragt, ob ihm gefällt, wie sich die kleine deutsche NHL-Schwester entwickelt hat, deren ersten Schritt er live begleitet hat. Aber Hull ist im Januar gestorben. Dass an diesem Donnerstag, fast auf den Tag genau 29 Jahre nach seinem Gastbesuch in Augsburg, die DEL ihre 30. Saison eröffnet, wieder mit einem Meister aus München, zeigt einerseits, dass sich das Modell etabliert hat; andererseits liegt zwischen 1994 und heute eine in Phasen abenteuerliche Entwicklung von rasender Goldgräbermentalität hin zu vernunftgetriebenem Wirtschaften.
Bestes Beispiel dafür: ebenjener Meister aus München. Denn wenn am Donnerstag (19.30 Uhr/Magentasport) Titelverteidiger EHC Red Bull München die Düsseldorfer EG zum Auftakt der Jubiläumssaison empfängt, dann steht, wenn man so will, die Version 3.0 des Meisters auf dem Eis: Die Maddogs gingen nach ihrem 6:1-Sieg damals in Augsburg noch vor Weihnachten pleite. Und die Barons, im Jahr 2000 von der amerikanischen Anschutz Entertainment Group aus dem Stand zum Titel finanzgespritzt, wurden drei Jahre später nach amerikanischem Vorbild nach Hamburg transferiert (und sind längst so tot wie die alte Bundesliga).
KI-basierte Analyse, automatisches Clipping: Die DEL setzt voll auf Digitalisierung
Verrückte Zeiten, vergangen und verweht. Gernot Tripcke, seit 2000 Geschäftsführer der DEL, zeichnet die Erinnerung daran ein süffisantes Lächeln ins Gesicht. "Verantwortungsbewusstsein und unternehmerisches Denken sind gewachsen", sagt der 55-Jährige. Aus in den Anfangsjahren stark auseinander driftenden Partikularinteressen hätten die aktuell 14 teilnehmenden Klubs zu einem "Ligagedanken gefunden". Man braucht einander. Auch die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Eishockey-Bund (DEB) besteht mittlerweile nicht nur auf dem Papier. "Der Erfolg der Nationalmannschaft ist eng mit der DEL verknüpft", sagt Münchens Manager Christian Winkler. Trotz einer respektablen Zahl von deutschen NHL-Profis: "Für internationale Erfolge braucht es eine starke deutsche Liga."
Wieder ist München ein gutes Beispiel für diese enge Verknüpfung: Vor vier Jahren ließ die Red-Bull-Organisation Trainer Toni Söderholm zum DEB ziehen, wo er das Werk von Marco Sturm (Olympia-Silber 2018) fortsetzte und die Nationalmannschaft ins WM-Halbfinale führte; in dieser Saison kehrt Söderholm (über den Umweg Bern) nun an die Münchner Bande zurück. Der Präsident des Internationalen Eishockeyverbands IIHF, Luc Tardif, lobte diese vitale Symbiose zwischen Liga und Verband vergangene Woche bei der Jubiläumsgala in Berlin: Deutschland sei in diesem Punkt weiter als andere Nationen.
Die Zufriedenheit lässt sich in Zahlen ausdrücken. Der Gruppenumsatz der DEL sei in der vergangenen Saison bei 15 Klubs auf rund 149 Millionen Euro leicht gestiegen im Vergleich zur Saison 2018/19, der letzten kompletten Spielzeit vor der Corona-Pandemie, auf rund zehn Millionen pro Klub. Nun, da die Liga wieder ihre Sollstärke von 14 Klubs erreicht hat, "wollen wir unser durch Corona unterbrochenes Wachstum fortsetzen", sagte Tripcke in einer virtuellen Medienrunde am Dienstag. Er spüre "nach dem fantastischen Sommer eine höhere Akzeptanz, eine größere Aufmerksamkeit, es herrscht Aufbruchsstimmung". Die Dauerkartenverkäufe seien "sehr gut", auch "das Sponsoring läuft trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage gut". Der WM-Erfolg tue das Übrige. "Wir wollen auf diesen Zug aufspringen", sagt Tripcke. Im Trubel um das WM-Gold der deutschen Basketballer wäre ja beinahe schon wieder verdrängt worden, dass die Eishockey-Nationalmannschaft im Mai in Finnland WM-Silber gewonnen hat, ihre erste WM-Medaille seit 70 Jahren.
Deutschland nach der Eishockey-WM:"Es war mehr drin"
Eigentlich unglaublich: Die deutsche Eishockeynationalmannschaft gewinnt die erste WM-Medaille seit 1953 - und ärgert sich danach über den verpassten Titel. Über ein Team, das von sich selbst noch viel erwartet.
Einer, dem das nicht entgangen ist, ist Stefan Thelen von der Telekom, die über ihren Streamingdienst Magentasport sowohl Basketball als auch Eishockey überträgt. Thelen sagt, in der vergangenen Saison habe es auf allen Kanälen so viele Aufrufe gegeben wie noch nie, allein in den sozialen Medien waren es 56 Millionen: "Wir bieten authentischen, nahbaren Sport." Wer schon einmal versucht hat, in einen neuen Mobilfunkvertrag der Telekom zu wechseln, mag sich vielleicht wundern, den Konzern und das Wort nahbar in einem Satz zu lesen. Was Thelen aber meint: Die Telekom bringt den Sport so nahe zum Kunden, dass nur noch der Stadionbesuch selbst näher dran ist.
Gab die DEL zu ihrem 20-jährigen Bestehen noch einen dicken gedruckten Jubiläumsband heraus, setzt sie heute voll auf Digitalisierung und Social Media. Pucks und Spieler sind gechippt und verkabelt, künstliche Intelligenz liefert Analysematerial und verpackt und versendet selbstständig Beiträge an Klubs, Liga und Partner. "KI-basierte Analyse mit Highlightscore", "Digitale Near-live-Distribution", "Automatisches Clipping" nennt sich das. "Das klingt sogar für mich ein bisschen sehr technisch", sagt Telekom-Mann Thelen. Was er im Grunde sagen will: "Wir haben sehr viel Echtes zu transportieren."
Alles proper also? Jein. Eishockey ist nach Fußball unter den deutschen Mannschaftssportarten die Nummer zwei, sagt Gernot Tripcke: "Wir haben so viele Zuschauer wie Basketball und Handball zusammen." Um diesen Status zu halten und die Geschäftszahlen weiter zu polieren, brauche es aber eine viel breitere Basis an Nachwuchsspielerinnen und -spielern. Ein schwieriges Thema angesichts fehlender oder baufälliger Eishallen. "Die Infrastruktur ist der Flaschenhals", sagt Tripcke. Zwar hat die DEL in ihrem Lizenzierungsverfahren den Punkt Nachhaltigkeit verankert, jeder Klub muss einen Nachhaltigkeitsbeauftragten benennen. "Wir haben sogar eine Treibhausgas-Bilanzierung eingeführt", sagt Spielbetriebsleiter Jörg von Ameln, "das hat noch keine andere Liga gemacht". Hört sich gut an. Eishockey ist und bleibt aber eine Sportart, die enormen Energieaufwand betreibt. Und die meisten Klubs haben kaum Handhabe zur Einsparung, weil ihnen die Stadien nicht gehören. Deshalb sagt Tripcke: "Wir müssen mehr Lobbyarbeit betreiben, wir brauchen aus der Politik Flankenschutz, um mehr Spieler zu kriegen." Zum Nachhaltigkeitsgedanken, das hat Tripcke im SZ-Interview einmal gesagt, gehöre eben "auch, dass es den Sport in 20 Jahren noch gibt".
Was das Sportliche betrifft, muss er sich kaum Sorgen machen. Natürlich gebe es die üblichen Verdächtigen, die seit 2015 den Meistertitel unter sich ausmachen, München, Mannheim und Rekordmeister Berlin (obwohl der zuletzt überraschend die Playoffs verpasst hat), dazu Köln, Ingolstadt, Wolfsburg. "Wahrscheinlich könnte man zehn, zwölf, 13 oder 14 Mannschaften aufzählen", sagt Münchens Manager Winkler. Darüber würden sie in Iserlohn, Schwenningen und Augsburg zwar vermutlich müde lächeln. Aber eine Monokultur wie in der Fußball-Bundesliga droht tatsächlich nicht. "Bei uns kann an jedem Spieltag der Letzte den Ersten schlagen", sagt Gernot Tripcke. Und welche bessere Werbung gäbe es für eine Liga als spannenden Sport, der die Menschen im Stadion und am Bildschirm gleichermaßen fasziniert?
Kurze spiritistische Anmaßung: Bobby Hull würde sich nicht dafür schämen, wie sein Patenkind sich in den vergangenen 29 Jahren entwickelt hat.