Der Maidan in Kolkata gilt mit seinen vier Quadratkilometern als der größte öffentliche Park Indiens. Auf holprigen Rasenflächen finden Dutzende Cricketspiele gleichzeitig statt. Jugendligen, Familienfeste, Turniere von Betriebsmannschaften. "Der Maidan ist das Zentrum für unsere größte Leidenschaft", sagt der ehemalige Profispieler Ambar Roy, der inzwischen eine Jugendauswahl trainiert. "Wir verehren Cricket. In Indien kommt man an diesem Spiel nicht vorbei."
Ambar Roy sitzt auf einem Gartenstuhl und zieht seine Mütze ins Gesicht. Seine Spieler klopfen sich den Staub von ihren langen Hosen und schwärmen auf dem Feld aus. Die meisten von ihnen sind auf dem Land aufgewachsen und hoffen in Kolkata, früher Kalkutta, auf eine lukrative Profikarriere. "Wer sind denn die Berühmtheiten in unserem Land?", fragt Ambar Roy. "Filmstars, Politiker und Cricketspieler." Nun erhoffen sie sich einen weiteren Schub: Von Donnerstag an ist Indien für sechs Wochen Gastgeber der Cricket-Weltmeisterschaft. Fünf Spiele sollen im Osten Indiens in Kolkata stattfinden, in einem der zehn Austragungsorte.
Tod von Shane Warne:Keiner warf den Ball wie er
Shane Warne prägte den Weltsport Cricket, weil er mit einem kleinen Lederball Wunderdinge vollbringen konnte. Die Leute aber liebten ihn, weil er das Klischee eines Australiers erfüllte.
Von den Spielfeldern auf dem Maidan sind es zehn Gehminuten bis Eden Gardens. Die Fassade des drittgrößten Cricketstadions der Welt ist mit Malereien verziert. Darauf zu sehen sind Fans, die ehrfürchtig zu ihren Sporthelden aufschauen. In den Katakomben hängen versiegelte Trikots und goldgerahmte Fotos. Hier hat auch Snehasish Ganguly sein Büro. Der Funktionär hat seine ersten Spiele in Eden Gardens als Schüler in den frühen 1980er Jahren erlebt. Damals, erzählt er, standen die Leute stundenlang für Tickets in der Schlange. Spiele dauerten fast den ganzen Tag. "Wir haben Frühstück, Mittagessen und Nachmittagssnack im Stadion gegessen."
"Uns steht eine gute Summe Geld zur Verfügung", sagt der Präsident des Verbandes von Westbengalen - "eine sehr gute Summe"
Snehasish Ganguly sitzt im weißen Hemd hinter einem massiven Schreibtisch. Hinter ihm hängen Gemälde mit Cricket-Motiven. Ganguly ist ehrenamtlicher Präsident des Cricketverbandes von Westbengalen, jenes Bundesstaates, in dem Kolkata die Hauptstadt ist. Im Hauptberuf leitet er ein millionenschweres Verpackungsunternehmen. Offizielle wie er machen deutlich, wie sehr Cricket in Indien mit der Wirtschaft verbunden ist. "Uns steht eine gute Summe Geld zur Verfügung", sagt er und lächelt. "Eine sehr gute Summe."
Die wichtigste Cricketliga der Welt, die Indian Premier League IPL, verzeichnete zuletzt einen Jahresumsatz von fast elf Milliarden US-Dollar. Nur die American-Football-Liga NFL setzte im globalen Sport noch mehr um, rund 18 Milliarden. Allein der Verkauf der Medienrechte sichert der IPL und ihren zehn Klubs in den kommenden fünf Jahren 6,4 Milliarden Dollar. Zu den größten Sponsoren der 2008 gegründeten Liga zählen ein Stahlunternehmen, eine Finanz-App, ein Anbieter für Online-Fortbildungen. Und aus dem Ausland drängen Staatskonzerne aus den Golfstaaten auf den indischen Cricketmarkt. Ihre Zielgruppe? In Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuwait und Katar leben zusammen mehr als zehn Millionen indische Arbeitsmigranten.
"Für unsere Unternehmen ist Cricket die perfekte Bühne, um Reichweite zu erzielen", sagt Snehasish Ganguly. Früher waren es Romane und Bollywood-Filme, in denen Cricket eine Rolle spielte. Heute sind es in Stadien Shows mit Lichtdrohnen und Tanzchoreografien, ideal für die Verbreitung in sozialen Medien. Bereits 2010 wurden Spiele der IPL auf Youtube übertragen, auch mit Ausrichtung auf die mehr als 30 Millionen Menschen indischer Herkunft, die nicht in Indien leben. Das Besondere an der IPL ist, dass sie im Frühjahr nur knapp zwei Monate dauert. "Die Klubs ersteigern jährlich in Auktionen die besten Spieler der Welt", sagt Snehasish Ganguly. "Unsere Mannschaften verändern sich ständig."
In der Kolonialzeit war Cricket auch ein Kontrollinstrument
Von Eden Gardens sind es 40 Gehminuten bis zur südlichen Spitze des Maidans. In einem gepflegten Garten mit Palmen und Statuen liegt das "Victoria Memorial", ein weißes Gebäude mit Marmorböden, Freitreppen und Kuppel. Man kann sich gut vorstellen, wie die britischen Kolonialherren, die vom späten 17. Jahrhundert an einen Handelsposten in Kolkata aufgebaut hatten, in ihren weißen Hosen Cricket spielten. "Im tropischen Klima wollten sich die Briten fit halten", sagt der Historiker Kausik Bandyopadhyay. "Aber Cricket war auch ein Kontrollinstrument."
Afghanistan:"Mädchen beim Cricket, das würde ich gern mal sehen"
Frauen und Cricket - für die Taliban unvorstellbar. Aber ohne Frauenmannschaft dürfen die Männer international gar nicht antreten. Es gibt sie also, aber keiner weiß von ihnen. Ein Treffen mit Frauen, die nur eines wollen: spielen.
In den Augen der Kolonialherren waren die Inder zu "verweichlicht" für ihre "Gentleman-Sportarten". Aber für die Verwaltung des riesigen Subkontinents mussten sich die wenigen Tausend britischen Beamten und Soldaten die Unterstützung von indischen Söldnern und Fürsten sichern. Mit der Zeit durfte eine kleine indische Elite beim Cricket mitspielen. Die Briten sprachen von "White Man's Burden", von der "Bürde des weißen Mannes", den angeblich Rückständigen zu helfen. Auch deshalb sah der Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi später die rasante Verbreitung von Cricket eher kritisch.
Mittlerweile ist Cricket wohl das einzige Vermächtnis der Kolonialzeit, das in Indien über Religionen und Kasten hinweg verehrt wird. Deshalb sei es wahrscheinlich, dass Narendra Modi die WM als Bühne nutzen wird, sagt Kausik Bandyopadhyay. Der indische Premierminister hat in seiner Amtszeit mehrmals Staatsgäste beim Cricket empfangen. Zum Beispiel im vergangenen März: In Ahmedabad, im Westen des Landes, empfing das indische Nationalteam Australien. Vor der Partie drehten Australiens Premierminister Anthony Albanese und Indiens Premierminister Modi eine Ehrenrunde. Auf ihrem Wagen stand eine Botschaft: "Freundschaft durch Cricket". Beide Regierungen vereinbarten eine engere Zusammenarbeit.
Das Eröffnungsspiel findet an brisanter Stelle statt
Das Cricketstadion von Ahmedabad ist mit 132 000 Plätzen das größte der Welt und trägt den Namen von Narendra Modi. Die Arena liegt im Bundesstaat Gujarat, wo Modi bis 2014 der Regierungschef war. 2002 soll Modi dort tatenlos zugesehen haben, wie mehrere Hundert Muslime bei Pogromen getötet wurden. Mit dem Erstarken seiner hindu-nationalistischen Partei BJP haben Anfeindungen gegen Muslime zugenommen. Ausgerechnet in Ahmedabad soll am 14. Oktober das brisanteste WM-Spiel stattfinden, zwischen den verfeindeten Nachbarn Indien und Pakistan.
In jüngerer Vergangenheit war das Verhältnis der Atommächte stark angespannt. Eine der Ursachen: 2008 kostete eine Anschlagserie pakistanischer Islamisten in Mumbai mehr als 160 Menschen das Leben. Seitdem waren pakistanische Spieler in der indischen Cricketliga nicht mehr willkommen. Und auch jetzt vor der Weltmeisterschaft haben die pakistanischen Spieler erst wenige Stunden vor der Abreise ihre Visa erhalten. Am Freitag mussten sie im indischen Hyderabad ein Testspiel gegen Neuseeland ohne Publikum bestreiten. Offenbar ist ihre Sicherheit gefährdet.
Nun bei der WM soll Pakistan zwei Spiele in Kolkata bestreiten, in der einstigen Hauptstadt von Britisch-Indien. Turniere wie diese werfen auch ein Licht auf das postkoloniale Verhältnis von Großbritannien und seinen früheren Gebieten. Von den zehn teilnehmenden WM-Nationen standen nur die Niederlande während der Kolonialzeit nicht unter britischem Einfluss.
Man kann sich von dieser Geschichte auch in der College Street ein Bild machen, im Norden von Kolkata. Auf schmalen Bürgersteigen breiten Händler ihre Büchertische aus. In Geschäften liegen Zeitschriften über Cricket aus. Zum Beispiel über die WM 1983, als Indien ausgerechnet in England zum ersten Mal den Titel gewann. Oder über das Stadion von Kolkata, das demnächst 160 Jahre alt wird. Mehrmals haben Fans in Eden Gardens Feuer gelegt, weil sie nach Niederlagen wütend waren. Aber auch, weil sie nach Siegen ihre Begeisterung nicht kontrollieren konnten.