Turnen:Simone, die Zweite

Lesezeit: 4 Min.

Simone Biles ist nach langer Pause wieder da. (Foto: Matthias Hangst/Getty Images)

Mit Spannung hat das Publikum Simone Biles' Rückkehr zur WM erwartet. Es sieht den überragenden Auftritt einer Turnerin, die wieder Freude an ihrem Sport hat - und sofort ein neues Element zeigt: den "Biles II".

Von Volker Kreisl, Antwerpen

Die Delegation war für die Rückkehr vorbereitet. Die Grüße hingen, geschrieben auf kleinen Fähnchen und Malblockpapier, über der Brüstung, gleich oberhalb des Wartebereichs der Bodenturnerinnen. Viel Mühe hatten sich die rund zehn Schüler gemacht, sie standen auf, sie riefen, auch ein Pappschild war erstellt worden mit den Worten: "Good Luck!" und dazu die scheue Frage: "Picture?"

Doch Simone Biles wollte einfach nicht schauen.

Die Turnerin befand sich im eigenen Tunnel, ganz bei sich, wie sie es gelernt hatte und seit gut zwei Jahren immer besser praktiziert, seit sie ungewollt der Turnwelt der Frauen einen Schlag versetzt hatte. Bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 hatten viele junge Bewunderer und Bewunderinnen nur auf sie gewartet. Doch dann brach die Amerikanerin ihren Sprung, einen schweren und sonst hochklassigen Flug mit zweieinhalb Schrauben, ab. Eine weitere Längsachsendrehung fehlte, und als sie am Boden war, blickte sie irritiert und traurig. Als sie sich schließlich auf die Bank gesetzt hatte, wirkte sie verwirrt und erzählte schließlich, sie habe in der Luft Twisties erlebt. Das sind jene seltenen, aber gefährlichen Orientierungsstörungen in der Höhe. Biles' Körper hatte ihr eine Warnung zukommen lassen, und sie nahm diese ernst. So sehr, dass sie heute nach einer zweijährigen Auszeit vom hochklassigen Sport eine andere Turnerin ist, fast ein anderer Mensch.

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Bei der WM in Antwerpen hat sie nun wieder jene Brillanz des Turnens erreicht, für die sie ihr Publikum liebt - die vielen Mädchen und Jungs, wie die älteren Besucher. Bei der Qualifikation unterliefen ihr allenfalls minimale Fehler, zudem präsentierte sie ein neues Element, einen Doppelsalto am Sprung, ein spektakulärer Flug, genannt "Biles II". Blieb nur das Problem am Stufenbarren, an dem sie nur Zweite wurde, was tatsächlich gar kein Problem sein dürfte. Denn der Flug durch die Holme ist schon immer ihr etwas schlechteres Gerät, außerdem will Biles wohl auch nicht mehr alles beherrschen. Insgesamt war ihr erster Auftritt eine Bestätigung auf höchster Ebene für ihre zurückerlangte Klasse. "Alle haben genau hingesehen, ob sie es noch draufhat", sagte ihr Trainer Laurent Landi, "aber Simone hat gezeigt, dass sie ihre Nerven komplett im Griff hat."

Plakettensammeln war auf einmal nicht mehr der Kampf der Simone Biles

Biles selbst wollte vor der ersten WM-Entscheidung am Mittwoch in der Öffentlichkeit nicht sprechen, aber alles in allem sieht es so aus, als würde sie diese WM beherrschen wie immer. Nichts gewesen, das wäre eine praktische Lösung für manche Manager in diesem Sport. Doch das täuscht, Biles lächelt zwar, sie freut sich mit ihrem Team und winkt ins Publikum, aber mehr noch wirkt sie gereift, ernster und auch etwas ernüchtert. Zu viel ist passiert seit Tokio '21, nicht nur auf den Geräten. Nach ihrem Einbruch hatte Biles den Anstoß gegeben für eine andere Haltung in diesem Sport, der seine Sportlerinnen nicht beschützt hatte.

Die erste Konsequenz hatte sie bei Olympia selbst gezogen. In Tokio war sie nur noch Begleiterin des Teams, am Ende gelangen ihr noch zwei Medaillen, Bronze am Balken und Silber mit der Mannschaft. Doch das Plakettensammeln war jetzt nicht der Kampf der Simone Biles, jetzt drängten die gewaltigen Themen an die Oberfläche, die lange vom Verband, von den Fans und auch in manchen Familien verdrängt wurden. Etwas später sagte sie dem Time Magazine: "Ich glaube, alles passiert aus einem Grund." Und: "Ich will nun meine Stimme einsetzen."

Die Turn-Arbeit braucht Gesellschaft und Inspiration - aber dann kam Corona

Nicht nur Biles war von Teamarzt Larry Nassar sexuell missbraucht worden, sondern nahezu die gesamte Riege. Nach und nach klagten Hunderte weiterer Turnerinnen gegen den Arzt und den Verband. Biles hatte sich als Opfer erst zwei Jahre später erklärt. Die Überragende im Team, die vor Tokio bereits vier Olympiasiege und 19 WM-Titel gesammelt hatte, nahm sich nun Zeit, das Trauma offenzulegen. Diese Jahre waren ja auch noch von anderen Blockaden geprägt. Von der Corona-Krankheit, wegen der auch Biles und ihre Teamgefährtinnen weniger trainieren und gemeinsame Zeit verbringen konnten. Sie, deren Kunst von Gesellschaft, Inspiration und Bewertung lebte, konnten nur noch einen Teil der gewohnten Zeit in einer stummen Turnhalle verbringen. Halle, Kraftraum, Geräte, Wettkampf, die Teammitglieder und der Schlaf - das sind die Koordinaten des Turnalltags. Und als die Funktionäre auch den besten Athleten nur noch ein abgespecktes Trainingsprogramm boten, da traten viele auf der Stelle.

Simone Biles beim Sprung. Sie zeigt bei der WM einen neuen Doppelsalto - den "Biles II". (Foto: Tom Goyvaerts/Belga/Imago)

Doch Biles, 1,42 Meter groß und mittlerweile 25 Jahre alt, die viel Zuspruch erfuhr, wuchs innerlich weiter und wurde in ihrer Heimat zur Sportheldin. Experten priesen ihr Vorbild, insbesondere für junge, schwarze Frauen. Überhaupt, Biles ist auch deshalb beliebt, weil sie sich in einem lange hauptsächlich weißen Sport durchsetzen konnte, und weiteren Sportlerinnen Hoffnung gibt.

In Antwerpen, im Sportpaleis im Norden der Stadt, sind diese wichtigen, aber schweren Themen gerade kein Thema. Die USA haben ein erneuertes Frauenteam, mit Biles an der Spitze, und es ist nach der Qualifikation keine Frage, wer hier wieder die meisten Goldmedaillen holen wird. Simone Biles wirkt ernsthafter, selbständiger und behält dennoch ihre Aura als überlegene Gegnerin. Sie springt Salti über den Balken, zaubert da oben eine Dreifach-Pirouette und viele weitere Schwierigkeiten. Sie fliegt über die Matte, zieht ihre Bahnen, mit Sprüngen und Flickflacks, und alles derart elegant, dass sogar der Korrekturschritt nach einer Landung, der eigentlich vermieden werden soll, wie ein elegantes Detail wirkt.

All das hatte das Empfangskomitee auf der Brüstung gebannt verfolgt, und als es vorüber war, stand Biles unten und unterhielt sich mit dem Team. Die Schüler riefen und streckten ihre Arme mit den Stiften. Jedoch, ihre Stimmen gingen im Hallenlärm unter, und das Picture-Schild wurde wieder eingezogen. Nein, Simone Biles schätzt gewiss auch junge Fans, aber in ihrer Karriere hat sie gelernt, auf sich aufzupassen. Wenn sie turnt, dann ist sie wohl im Tunnel, und da schießt man keine Bilder.

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