Boxer Loriga in München:Prügeln ist sein Leben

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Pietro Lorigas DM-Kampf am Samstag soll der Aufbruch zu einer späten Profikarriere werden. (Foto: Mary Goldau/oh)

"Im Ring habe ich mich das erste Mal wirklich selbstbewusst gefühlt": Pietro Loriga tritt in München um die deutsche Meisterschaft im Leichtgewicht an. Er kämpft so, wie er aufgewachsen ist: roh, wild, unerschrocken.

Von David Pfeifer und Benedikt Warmbrunn

Das Kind in ihm, sagt Pietro Loriga, hat jetzt eine Heimat gefunden. Das Kind, das sich nach dem Vater gesehnt hatte, das irgendwann wusste, dass dieser drogenabhängig war, dass er auf Sardinien lebte, dass er sich einen Scheiß interessierte. Das Kind, das vom Stiefvater als Dreizehnjähriger aus dem Haus geworfen wurde und dann jahrelang im Heim gelebt hatte. Das sich prügelte und deswegen von der Schule flog. Das sich lange weigerte, erwachsen zu werden, das unzuverlässig geblieben ist, ans Feiern denkt, aber nicht an den nächsten Morgen. Mit diesem Kind fühlt sich Pietro Loriga als 30 Jahre alter Mann mittlerweile wohl. Er hat akzeptiert, wer er ist. Das Kind in ihm ist es, das ihm Kraft gibt. Er sagt: "Ich hab' diesen Überlebensinstinkt in mir."

An diesem Samstag wird Loriga in der Tonhalle München um die deutsche Meisterschaft im Leichtgewicht kämpfen und zeigen, was in ihm steckt. "Egal, wie ich sonst drauf bin. Ich gebe immer alles beim Kampf." Wenn er siegt, soll das der Auftakt zu einer späten, aber großen Karriere als Preisboxer werden. Eine Aufholjagd gegen die Zeit, den größten Gegner jedes Kämpfers. Eine "Rocky"-Geschichte. 2024 soll das Jahr werden, in dem sie in seiner Gewichtsklasse auf ihn aufmerksam werden. 2025 das Jahr, in dem er um eine WM-Chance kämpfen will, am besten natürlich auch gleich um die WM selbst. Loriga weiß, dass es kein leichter Weg wird.

Andererseits: Es ist der einzige Weg, den er bislang in seinem Leben gegangen ist.

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Loriga ist in Bielefeld geboren, in München aufgewachsen, hier hatte er auch seine rastlosen Jugendjahre. Als er in einer Einrichtung der Diakonie lebte, traf er auf einen Betreuer, der, wie Loriga sagt, ihm "den Arsch gerettet hat". Er machte ihm klar, dass schon auch er selbst für sein Leben verantwortlich sei. Loriga machte eine Ausbildung, bekam mehr Struktur in sein Leben. Die rohe Energie in sich wurde er dennoch nicht los. Bis er mit dem Boxen anfing, da war er schon Anfang 20. "Im Ring habe ich mich das erste Mal wirklich selbstbewusst gefühlt", sagt Loriga.

Der mexikanische Boxstil, den er zuerst lernte, entsprach ganz seinem Naturell

Wer so spät anfängt, lernt Boxen üblicherweise nur noch wie eine Fremdsprache. Flüssig vielleicht, aber unsicher und tastend. Als Loriga allerdings das erste Mal in ein Boxgym ging, machte er sofort ein Sparring, und er kämpfte so, wie er sein Leben gelebt hatte: roh, wild, unerschrocken. Er habe, so erzählt er es heute, Männer mit Wettkampferfahrung "verprügelt". Es half sicher, dass er vorher immer enorm sportlich war, als Jugendlicher sogar voltigiert hat. Wer einen Handstand auf einem trabenden Pferd machen kann, bringt zumindest die richtige Kombination aus Kraft und Koordination mit, die es zum Boxen braucht.

Der Trainer fragte ihn, ob er auch gegen einen Profi sparren wolle. "Warum nicht?", sagte Loriga. Der Profi zeigte ihm seine Grenzen auf, verprügelte ihn. Loriga aber gab nicht auf, trainierte drei Monate lang besessen, forderte den Profi erneut zum Sparring heraus und schlug ihn k.o.

Er wurde selber Profi und nahm auch da den schweren Weg. 2018 kämpfte er erstmals in Mexiko, dem Mutterland der kleinen Riesen, der toughsten Boxweltmeister, die mehr schlagen als sich zu schützen. Das erste Duell gewann er vorzeitig, das zweite verlor er, "diese Mexikaner sind echt harte Burschen", sagt er und freut sich wie ein Kind darüber, dass er immer noch dabei ist, trotz dieser Rückschläge. Überhaupt hat er im Gespräch eine entwaffnende, überschwängliche Art. Er hatte zwar keine richtige Kindheit, dafür wirkt er als Erwachsener umso wacher und neugieriger. In der Wettkampf-Vorbereitung zitiert er Seneca, gibt aber gleich lachend zu, dass er sich "nur ein Taschenbuch mit den wichtigsten Philosophen" gekauft hat.

Er kämpfte auf den Philippinen, dort hat er vier Monate lang auf dem Boden geschlafen, um ihn herum Kakerlaken so groß wie seine Hand - "und fliegen konnten die auch noch!" Er kämpfte erneut in Mexiko und in Las Vegas. Verloren hat er nicht noch einmal. Sein achter Kampf war der erste in Deutschland. Hier hat er inzwischen auch boxerisch eine Heimat gefunden, im Mariposa Boxing Club in München.

Der mexikanische Boxstil, den er zuerst lernte, entsprach ganz seinem Naturell, hart, hohes Tempo, noch höheres Risiko. Manches, was er sich damals aneignete, nutzt er noch heute. Wenn er im Nahkampf aus verschiedenen Winkeln schlägt, wenn er sich klein macht, um den gegnerischen Schlägen zu entgehen. In den USA fügte er diesem wilden und unerbittlichen Stil mehr Technik und Strategie hinzu - bis dahin bestand sein Kampfplan daraus, noch 1000 Mal zu schlagen, wenn er durch die ersten 1000 Schläge nicht gewonnen hatte. "Diese Kämpferqualität ist einfach in seiner DNA", sagt sein Berater Tim Yilmaz vom Mariposa Boxing Club. Yilmaz kam auch auf die Idee, Loriga nach Bangkok zu schicken, um es noch mal zu versuchen mit der ganz großen Karriere.

Während der Pandemie hatte Loriga schon angefangen, Regale im Supermarkt einzuräumen und seinen Traum zu vergessen. Es gab keine Kämpfe mehr, und die Rahmenbedingungen, das ewige Trainieren, die Disziplin, das Abkochen, um in die Gewichtsklasse zu kommen, das geht an die Nerven. Aber das Boxen fehlte ihm. Also hat Loriga sich auf eine Aufholjagd gegen die Zeit begeben, "wie viele Jahre habe ich denn noch, in meiner Gewichtsklasse? Vier, vielleicht sechs?"

In Thailand war er befreit vom Alltag. Weg von seinem normalen Umfeld wurde er disziplinierter, er absolvierte bis zu vier Trainingseinheiten am Tag. In der Zeit hat er gelernt, dass er sich auch mal gedulden muss, dass es nicht nur auf die Fäuste ankommt, sondern auch auf Beinarbeit und Köpfchen. Er lernte, sich zumindest von einem nicht aufhalten zu lassen: von sich selbst.

Er habe "nicht so viele Schläge auf den Kopf bekommen wie andere in meinem Alter"

In Bangkok machte er drei Aufbaukämpfe, in denen er dem Publikum nicht nur gutes Boxen bot, sondern auch Show und Drama. Nachdem der erste Gegner k.o. ging, schlug Loriga einen Salto für die Kameras. Beim zweiten Sieg zog er sich in einer frühen Runde ein gerissenes Trommelfell zu. Wenn das Gleichgewicht gestört ist, fehlt dem Boxer eigentlich die Stabilität, aber Loriga gewann auch diesen Kampf überlegen. Das Publikum liebt solche Momente natürlich.

Sein bislang letzter Kampf war um den Asia-Gürtel der WBA. Sein Gegner, ein umgeschulter Thai-Boxer, wollte klammern, schubsen, dann überfallartig angreifen. Aber Loriga blieb ruhig und überlegen, löste sich schnell, bestrafte jede Unsauberkeit sofort mit sauberen Treffern. Gegen Ende der zweiten Runde gab sein Gegner den Kampf wegen eines kaum sichtbaren Cuts über dem Auge auf. Ein Operetten-Abgang, der Loriga verärgerte, "weil ich mehr zeigen wollte". Den WBA-Gürtel durfte er trotzdem mit nach München nehmen.

Dass er erst mit 25 angefangen hat, als Profi zu boxen, hat natürlich auch seine Vorteile, "ich habe nicht so viele Schläge auf den Kopf bekommen wie andere in meinem Alter". Auch wenn die Zeit gegen ihn arbeitet - er kann seinen Weg noch eine Weile weitergehen. Manchmal wundert er sich selbst, wohin ihn der Boxsport bereits geführt hat, einmal um die Welt. Warum also nicht noch größeren Zielen folgen? "Als Kind bin ich von der Schule geflogen, weil ich mich geprügelt habe", sagt Loriga, "heute ist das Prügeln mein Leben, wenn auch mit Regeln - und die Leute vergöttern mich dafür."

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