Bayerns 8:2 gegen Barcelona:Immer weiter, immer nach vorne

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Antreiber und Torschütze: Thomas Müller beim 8:2 gegen den FC Barcelona. (Foto: Frank Hoermann/Sven Simon/Pool/imago)

Der FC Bayern hat unter Hansi Flick einen unwiderstehlichen Stil erschaffen. Ihre erdrückenden Kräfte, die selbst den FC Barcelona zermahlen, entfaltet die Mannschaft, weil sie als starke Gemeinschaft funktioniert.

Von Philipp Selldorf, Lissabon

Die Frage nach dem Mitleid für den Verlierer sollte sich inzwischen eigentlich erübrigt haben, denn es gibt aus der Erfahrung von circa 150 Jahren Sportgeschichte kein Team im Fußball, das vom Gegner bemitleidet werden möchte nach einer schweren Niederlage, weder in der Liga der Champions noch in der Oberliga Nordrhein oder der Bezirksliga Bodensee. Mitleid erhöht dann bloß den Faktor der Demütigung, und kein Fußballprofi mit Anstand und Charakter sollte Interesse daran haben, Lionel Messi demütigen zu wollen.

Leon Goretzka hat sich also korrekt und respektvoll verhalten gegenüber dem kleinen, großen Argentinier, dessen Wege er immer wieder kreuzte: Er hat nicht aufgehört, dem Magier regelmäßig das Kaninchen respektive den Ball zu entwenden, und er hat sich auch dadurch nicht das Vergnügen nehmen lassen, dass Messi längst demonstrativ die Lust verloren und unter seinem struppigen Bart die Miene der Diva aufgesetzt hatte. Nein, sagte Goretzka, "wehgetan" habe es ihm nicht, das Idol leiden zu sehen - "es hat mir schon ein bisschen Spaß gemacht".

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Goretzka und der FC Bayern haben sich nicht damit begnügt, den Einzug ins Halbfinale zu sichern, der spätestens nach dem 5:2 durch Joshua Kimmich in der 57. Minute nicht mehr ernsthaft in Frage stand. Die Mannschaft hat, wie das im Laufe des 21. Jahrhunderts Tradition geworden ist in diesem Verein, immer weitergemacht mit der Zerstörung des längst erledigten Gegners, aber das war nichts Persönliches oder Hämisches, sondern die Konsequenz des zurzeit scheinbar unwiderstehlichen Bayern-Stils. Sie können offenbar nicht anders.

Selbst als Hansi Flick damit begonnen hatte, durch reges Austauschen die Kräfte des Stammpersonals zu schonen, änderten die Münchner nicht ihre Methoden oder die Richtung ihres Kompasses. Unverändert drängten sie vorwärts, nicht fanatisch oder blutrünstig, sondern so selbstverständlich wie üblich, "wir haben immer weitergemacht", wie Manuel Neuer unter Verzicht auf jegliches Staunen mitteilte.

Die letzten drei Treffer sahen beinahe trivial aus in ihrer Schlichtheit, wie ein paar späte Trefferchen beim Testkick am Tegernsee, aber sie hatten schon auch ihre Bedeutung für die Fortsetzung der Mission von Lissabon. Einerseits, weil Robert Lewandowski - Schütze des 6:2 - natürlich nicht erfolglos bleiben durfte an so einem Abend, andererseits, weil Philippe Coutinho nach seiner Einwechslung mit einer Vorlage und zwei Toren das Gefühl mitnehmen durfte, ebenfalls Teil dieser Mannschaft zu sein, die den großmächtigen FC Barcelona schwach und hilflos aussehen ließ. Jenen FC Barcelona übrigens, der in ein paar Tagen wieder sein abstrus hohes Gehalt bezahlen wird, sobald die Frist des Mietgeschäfts mit den Bayern abgelaufen ist.

Der Hinweis auf den Ernst des weiteren Lebens folgte sofort

"Am schönsten ist eigentlich, wenn man sieht, dass die Spieler, die reinkommen, den gleichen Impact haben, die gleiche Freude, die gleiche Arbeitseinstellung", sagte Thomas Müller später bei "Sky". Dabei hatte speziell Müller eine Menge Impact beigetragen, nicht allein wegen der beiden Tore, sondern weil er ein herausragender Vorkämpfer war, eine ständige Störung im filigranen System der Katalanen. "Wichtig ist, dass jeder sich quält", sagte Müller. Ein Schlüsselsatz fürs Bayern-Spiel, den man am Trainingszentrum an der Säbener Straße anbringen könnte.

Coutinho, ein großer Fußballer, aber kein Selbstquäler, wird nach Lage der Dinge seinen Platz auf der Reservebank behalten, aber einen Spieler mit seinen speziellen Fähigkeiten werden die Bayern womöglich noch brauchen können auf dem weiteren Weg durchs Finalturnier. Es ist auch ohne Zugang zur Umkleidekabine für jeden erkennbar, dass diese Mannschaft jenseits ihrer jeweils persönlichen und natürlich extrem beachtlichen Talente vor allem deshalb solche erdrückenden Kräfte entfaltet, weil sie als starke Gemeinschaft funktioniert.

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Die auf identische Weise einheitliche Vorsätzlichkeit der elf plus fünf beteiligten Münchner Spieler war es, die am Freitagabend den stolzen Widersacher in die Knie gezwungen und in die Nähe einer unseligen Verwandtschaft gerückt hat. Die letzten fünf Spiele mit acht Treffern gelangen dem FC Bayern gegen den FC St. Pauli, den Hamburger SV, den Hamburger SV, den Hamburger SV - und den FC Barcelona.

Man habe den Gegner "hervorragend unter Druck gesetzt", sagte Hansi Flick in diesem ganz und gar sachlichen Ton, den er auch nach Siegen in Mainz oder Gelsenkirchen zu wählen pflegt. "Ja, wir können uns erfreuen an dem Spiel", sprach der Trainer zwar, aber das hatte mit Euphorie selbstredend nichts zu tun und kündigte auch keine Champagnerparty an im Golfhotel draußen vor der schönen Stadt, wo die Münchner sich niedergelassen haben. Der Hinweis auf den Ernst des weiteren Lebens folgte sofort: "Wir wissen aber auch, dass man noch einiges vor der Brust hat, und wir alle wissen, wie schnell das im Fußball gehen kann." Das sei "auch in der Kabine zu spüren gewesen".

Möglicherweise kam ihm diese Stimmung ziemlich bekannt vor, es war ja unvermeidlich, an jenen Abend in Belo Horizonte zu denken, an dem die deutsche Nationalelf mit Jogi Löws Assistenztrainer Flick auf der Bank den WM-Gastgeber Brasilien 7:1 besiegte. "Ich blicke wenig zurück", erwiderte Flick lediglich, als er auf die Parallele angesprochen wurde, "für mich ist das Hier und Jetzt entscheidend." Thomas Müller, auch ein Zeitzeuge, hielt den Vergleich für unpassend: Bei der WM sei es damals "passiert", der Abend in Lissabon habe hingegen "viel, viel mehr mit uns zu tun, als das in Brasilien. Gegen Brasilien hatten wir es nicht so unter Kontrolle. Wir waren heute einfach brutal dominant, vor allem gegen den Ball."

Müller setzte sich mit diesen Worten recht kühn über jene Phase hinweg, in der das Spiel auch eine andere Tendenz hätte einschlagen können. Es stimmt: Sein extra frühes 1:0 nach Doppelpass mit Lewandowski war das Ergebnis der Dominanz-Taktik, aber David Alabas Eigentor kaum drei Minuten später war ebenso wenig geplant wie die Szenenfolge, nach dem 1:1: die Chance für Luis Suárez, Messis Pfostenschuss und eine Reihe von Momenten, in denen die Bayern-Deckung durchaus labil wirkte. Mängel beim unschlagbaren deutschen Meister? Flick widersprach nicht, er nahm sich aber die Freiheit, diese Eindrücke für sich zu behalten: "Nach dem 8:2 muss ich das nicht groß beantworten. Ich glaube, man kann nach so einem Sieg das Positive hervorheben."

Der Cheftrainer und seine Hilfsstrategen hatten entschieden, dem spielstarken Widersacher durch frühes bis sehr frühes Stören zuzusetzen, bis hinein in den Strafraum, in dem Barcelona sein waghalsiges Kombinationsspiel aufzuführen pflegt, was manchmal kunstvoll gelingt - und manchmal bloß tollkühn und dumm ist. Die Münchner Linien sollten ständig aufrücken, um den Druck zu forcieren, und für den Fall, dass die Rot-Blauen dann doch einmal nach vorn durchdringen, sollten alle Mann zügig auf dem Posten sein.

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Das klingt vielleicht nicht nach einem akademischen Plan, nicht mal nach deutscher Gründlichkeit, aber es ist unter Aufsicht des besonnenen Hans-Dieter Flick die typische, couragierte und gewollt riskante Spielweise der Bayern. Barcelona brauchte keinen Spion zum Training zu schicken, um das in Erfahrung zu bringen. Sie wussten, wer für die Bayern auf dem Platz stehen würde, und sie wussten, wie die Bayern spielen würden. Aber sie konnten trotzdem nichts mehr dagegen unternehmen, als das Unglück seinen Lauf nahm.

Verantwortlich für jenen schlüsselhaften Augenblick zeichnete einer der stillen und weniger schillernden Männer im Ensemble der bayrischen Berühmtheiten. Ivan Perisic ist ein Spieler aus der zweiten Reihe des Kaders, der ständig unterschätzt wird, selbst wenn er ständig zur Stelle ist, um eine wichtige Rolle in der ersten Reihe einzunehmen, mal als Startelfaushilfe, mal als Einwechselspieler, der neue Fakten schafft. Die Bayern haben ein glänzendes Geschäft gemacht, als sie den Parade-Profi von Inter Mailand geliehen haben. Sollte eines Tages ein Sonderband zum Champions-League-Triumph 2020 erscheinen, verdient Perisic ein eigenes Kapitel.

Diesmal unterstrich der kroatische Linksaußen seine Wichtigkeit durch das Tor zum 2:1 - der Ball, der die Lawine auslöste, zumal da die Lawine durch Serge Gnabrys zügig folgendes 3:1 rasend Fahrt aufnahm. Für Perisic gab Flick auf Befragen ein Sonderlob preis: "Ivan ist schon immer wichtig gewesen mit seiner Physis, er hat auch einen guten Zug zum Tor und ist immer torgefährlich." Damit sollte es dann aber auch genug sein mit dem Sonderloben.

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Andere Trainer hätten ihrem Team nach so einem Abend Hymnen gedichtet, Hansi Flick hob hingegen hervor, dass ja "auch ein 3:1 in den Geschichtsbüchern gestanden hätte". Statt in den Bildband der Legenden verwies Flick diesen denkwürdigen Erfolg in den Almanach, in dem kleingedruckt Ergebnisse, Tabellen und Termine vermerkt werden. Aber jeder hat verstanden, was er damit sagen wollte: Flick und die Bayern haben noch ganz große Dinge vor in Lissabon, und so hinterließ der Trainer noch ein paar typische Worte, bevor er zur halbstündigen Heimreise in den Bus stieg: "Morgen ist Regeneration und Spiel-Ersatztraining, und dann schauen wir weiter, wie die nächsten Tage sind."

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