Carlos Alcaraz in Wimbledon:Abenteurer auf der tückischen Grasnarbe

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Auch auf Rasen artistisch: Carlos Alcaraz. (Foto: Sebastien Bozon/AFP)

Vor einem Monat hat Carlos Alcaraz im Halbfinale von Paris verloren. Aber der 20-jährige Spanier lernt schnell, auch das Rasenspiel. In Wimbledon will er den Goldpokal gewinnen - am liebsten vor den Augen eines ehemaligen Champions.

Von Barbara Klimke, London

Als Erstes sah man den Hut, einen Bucket Hat aus weißem Leinen, und unter der schmalen Krempe dann das fröhliche Lachen von Carlos Alcaraz. Beim zweiten Auftritt im Fernsehtrakt im All England Club trug er wieder diesen Hut. Ob Alcaraz tatsächlich scheinbar wahllos, aus einer Laune heraus, in die Klamottenkiste greift, das sei beim Blick auf das aufgestickte Logo dahingestellt. Kalkül oder nicht: Der Hut passt zum Image von "Carlito", dem Jungen aus Murcia, Spanien, der den Machtwechsel in der Tennishierarchie ziemlich locker nimmt.

Carlos Alcaraz Garfia ist 20 Jahre alt und steht an der Spitze der Weltrangliste - sogar eine Weile schon. Im September übernahm er die Führungsrolle und hält sie, einige Positionswechsel inklusive, inzwischen bereits seit insgesamt 24 Wochen. Seinen ersten Grand-Slam-Titel hat er im vergangenen Sommer verbucht auf dem Hardcourt der US Open. Und nun, da es um die größte Beute seines Sports geht, nimmt er es unbekümmert mit allen auf. Mit welcher Vorgabe er nach Wimbledon gekommen sei, wurde Alcaraz nach seinem Erstrundenerfolg gegen den Franzosen Jeremy Chardy (6:0, 6:2, 7:5) gefragt. "Das Turnier zu gewinnen", erwiderte er grinsend. "Das ist jetzt das wichtigste Ziel für mich. Ich habe eine Menge Zuversicht gewonnen."

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Andy Murray hatte sein Karriereende schon vor Augen. Nun hat er drei kleine Turniere gewonnen und startet in Wimbledon mit der Zuversicht, noch immer zu den besten Rasenspielern der Welt zu gehören.

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Noch vor wenigen Wochen hätten die Buchmacher auf der Insel mit dieser fröhlichen Prognose nicht das beste Geschäft gemacht, denn bei der vergangenen Wimbledon-Ausgabe 2022 war Alcaraz im Achtelfinale dem zwei Jahre älteren Jannik Sinner klar unterlegen. "Auf Rasen muss man vorsichtiger sein als auf allen anderen Belägen", lautete seine Erkenntnis danach. Aber er passte sich an, denn er lernt schnell - schneller als die KI, die Künstliche Intelligenz, wie The Times bereits vermutet: Vor zwei Wochen hat er sich den Titel des prestigeträchtigen Turniers im Londoner Queen's Club gesichert. Für Alcaraz war es erst der dritte Feldversuch auf der tückischen Grasnarbe, bei jenem Wettbewerb übrigens, der 1985 auch dem 17-jährigen Boris Becker den Weg zum ersten Wimbledon-Triumph gewiesen hatte.

Über die Eigenheiten des Ballspiels auf Wimbledons Weidelgras (für Gärtner: lolium perenne) können Tennisprofis aus dem Stegreif Impulsreferate halten; über flachen Ballabsprung, Kniebelastung, Schwungadaption. Alcaraz indes nähert sich der Aufgabe in dem speziellen Biotop nicht mit Ehrfurcht, sondern unter Anleitung seines Trainers Juan Carlos Ferrero mit dem Enthusiasmus eines Abenteurers auf Dschungeltour. "Jeden Tag lernt man was Neues", sagte er nach dem Erstrundenmatch: "Jedes Mal, wenn ich auf den Platz gehe, ist das besser für mich." Den Lerninhalt der 1:53-Stunden-Einheit gegen Chardy fasste er in zwei Worte zusammen: "Erfahrung sammeln."

Auch Wimbledon-Titelverteidiger Novak Djokovic ist gewarnt vor Alcaraz

Überraschend für die Zuschauer war in diesem Match, dass die Anpassungsschwierigkeiten nicht bei dem 20-jährigen Alcaraz, sondern beim 36-jährigen Chardy zu beobachten waren. Der Franzose, der über Erfahrung wie wenige andere auf der Tour verfügte, verabschiedete sich an diesem Tag in Wimbledon von seinem Sport. Er brauchte eine Weile, um die Wucht von Alcaraz' Vorhand-Returns zu kontrollieren, und als er den Court Number One verließ, erhoben sich die Zuschauer zum Applaus. So kam eine Karriere zu ihrem Schlusspunkt, während eine andere Fahrt aufnimmt.

Noch ist Alcaraz für seine Kollegen "Carlito", wie sie ihn nennen; aber auch Wimbledon-Titelverteidiger Novak Djokovic ahnt, dass er auf einiges gefasst sein muss, wenn aus Karlchen, dem Kleinen auf der anderen Netzseite, ein Carlos wird. Rivalitäten ist der 23-malige Grand-Slam-Sieger gewohnt, der sich mehr als ein Jahrzehnt an Größen wie Roger Federer und Rafael Nadal gemessen hat. "Herausforderer gibt es, gab es und wird es immer geben", sagte er dieser Tage, ehe er ausführlich Alcaraz' "Reife, Intensität und Energie" lobte.

Vor einem Monat in Paris bei den French Open unterlag Alcaraz Djokovic in einem Match, in dem er unter Krämpfen litt (3:6, 7:5, 1:6, 1:6). Auch daraus, so berichtete er nun in Wimbledon, habe er seine Schlüsse gezogen. "Der Grund für die Krämpfe war die Anspannung, unter der ich stand, weil ich gegen Novak im Halbfinale gespielt habe. Ich glaube, die Erfahrung war wichtig für mich, ich habe eine Menge daraus gelernt. Das nächste Mal werde ich mit der Anspannung besser umgehen, wenn ich im Halbfinale der French Open stehe."

Nur eine Sache hat ihn doch ein bisschen umgetrieben am Dienstag: Nämlich der Umstand, dass Roger Federer, der als Tennispensionär dem Turnier einen Besuch abstattete, das er vor 20 Jahren erstmals gewonnen hat, in der Royal Box auf dem Centre Court neben Prinzessin Kate saß. Und nicht bei ihm, auf Court Number One. "Ich wünsche mir natürlich, dass Roger Federer mal eines meiner Matches anschaut", sagte er. "Ich war ein bisschen neidisch." Dann grinste der Weltranglistenerste unter dem Rand seines Hütchens und sah keinen Tag älter als 20 aus: eben wie Carlito.

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