Eine Attraktion fehlt heute, obwohl sie auf einer Säule der Aussichtsetage im neu eröffneten Hochhaus Scramble Square in Tokio-Shibuya angekündigt ist. "Mt. Fuji" steht da in eleganter Schrift vor den Fenstern nach Westen, darüber eine stilisierte Zeichnung des höchsten japanischen Berges, die allerdings eher an das Porträt eines Schornsteins erinnert. Das Original ist im Nebel verschwunden. Dafür ist etwas anderes zu sehen, wenn man an die Scheiben herantritt und über die Hochhäuserlandschaft hinweg zum Horizont schaut.
Aus der Wolkendecke brechen vier breite Sonnenstrahlen wie die Lichtsonden eines Raumschiffs und fallen auf die Stadt. Es ist ein Schauspiel von mystischer Schönheit, Zauberei fast, und leise freut man sich darüber, dass es in dieser zugebauten Landschaft der Riesenmetropole Tokio ausnahmsweise mal ein Naturereignis zu erleben gibt.
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Shibuya, der lärmend lichternde Knotenpunkt des Tokioter Geschäfts- und Konsumalltags, befindet sich gerade im Umbau. Rund um den Bahnhof, der zu den geschäftigsten Japans gehört, sind mehrere Baustellen in Betrieb, um aus dem alten, berühmten Business-Distrikt bis 2027 einen moderneren, noch berühmteren Business-Distrikt zu machen. Im Rahmen dieses Umbaus haben drei Investoren an der Stelle des früheren Planetariums das besagte Hochhaus Scramble Square errichten lassen, das mit seinen 230 Metern zu den höchsten im Land gehört. Am 1. November wurde es eröffnet und natürlich gefeiert als Symbol für das hippe, kosmopolitische Shibuya der Zukunft.
Ein vertikales Einkaufszentrum - und trotzdem ein Gewinn
Zu viel kulturelle Tiefe darf man in das hohe Haus allerdings nicht hineininterpretieren. Im Grunde handelt es sich dabei nämlich schlicht um das nächste etwas größere Einkaufszentrum. Seine kastenförmige Architektur wirkt eher zweckmäßig als kühn. Zwischen Stockwerk 17 und 45 verteilen sich 73 000 Quadratmeter Bürofläche, die den Scramble Square zum größten Bürogebäude Shibuyas machen. Ein Gewinn ist der Wolkenkratzer trotzdem für das Viertel.
Erstens, weil jede Baustelle weniger das Chaos im Stadtteil etwas lichtet. Zweitens, weil das Gebäude eine neue Chance mit sich bringt, über den Dächern Tokios ein bisschen Ruhe zu finden.
Die Idee, eine schöne Aussicht zu verkaufen, ist vermutlich so alt wie die Erfindung des Wolkenkratzers selbst. Auch in Tokio gibt es schon verschiedene Möglichkeiten, sich in die Höhe zurückzuziehen. Denn die Flucht nach oben entschleunigt, tröstet und weitet den Blick. Aus der Vogelperspektive sieht die Welt immer freundlicher und friedlicher aus. Eine Fahrt im Aufzug kann für die ganze Hektik entschädigen, der man sich im urbanen Gelände aussetzen muss.
47 Stockwerke über dem Lärm
Shibuya Sky - so heißt die Aussichtsplattform - soll den Scramble Square zur einträglichen Touristenattraktion machen. Die Preise sind entsprechend gesalzen, 1800 Yen (15 Euro) für Erwachsene bei Online-Vorbestellung, 2000 (16,50) an der Tageskasse. Und oben gibt es natürlich alles, was den Touristen noch mehr Geld aus der Tasche ziehen soll: Souvenirladen, Spaßfoto-Shop, Gastronomie. Trotzdem: Gerade Shibuya hat so einen Ort gebraucht, der 47 Stockwerke über dem lauten, erschöpfenden Stadtleben liegt.
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Shibuya fasziniert und stresst. Der Stadtteil steht für alles, was Tokio toll und anstrengend macht. Er ist ein bunter Treffpunkt, an dem man einen Eindruck von der Vielfalt der japanischen Gesellschaft bekommen kann mit extravaganten Jugendlichen, Businessmenschen, Künstlern und Touristen, die hier alle über die riesige Kreuzung am Bahnhof laufen.
Mittendrin steht das Denkmal des treuen Hundes Hachikō (1923 bis 1935), der berühmt wurde, weil er nach dem Tod seines Herrchens, des Agrarwissenschaftlers Hidesaburō Ueno, weiter jeden Tag zum Bahnhof zurückkehrte, um auf Ueno zu warten. Und drumherum gewittern die Leuchtreklamen, klingeln die Kassen, rauscht der Verkehr, herrscht auf den Bürgersteigen ein episches Gedränge.
Wenn man mittendrin steckt in diesem Durcheinander, würde man sich manchmal am liebsten woandershin beamen können. Aber in 230 Metern Höhe wird der Irrsinn auf einmal ganz leise. Vom 14. Stock geht der Aufzug Richtung Wolken. Eine Animation in der Decke vermittelt den Eindruck, als gleite man durch einen Schacht in eine andere Dimension des Universums.
Im 46. Stock kann man erst einmal eine Runde an den Panoramafenstern entlang drehen, einen Kaffee mit Blick über das Häusermeer nehmen oder gleich mit der Rolltreppe aufs Dach fahren. Das Personal bittet die Besucher, Taschen und andere Gegenstände ins Schließfach zu sperren, damit kein Windstoß sie fortträgt. Draußen ist dann auf einmal ein Frieden da, den es unten nicht gibt.
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Die Kreuzung am Bahnhof sieht so klein aus, dass man sie kaum erkennt. Ameisenstraßen ziehen durch die Häuserschluchten. Lautlos gleiten Autos und Züge auf ihren Bahnen. Man blickt auf andere Hochhäuser herab, auf die Bäume des Yoyogi-Parks, auf das neue Olympiastadion. Und die Menschen sind sichtlich froh, dass sie diese Höhenluft atmen.
Über dem Boden der Tatsachen
Sie ruhen sich auf dem Kunstrasen des Helikopterlandeplatzes aus. Lassen sich auf Sitzgelegenheiten nieder, um vor dem Panorama zu verweilen. Und sie posieren für Fotos vor der zerklüfteten Kunstlandschaft aus Stahl und Beton, die sich in alle Himmelsrichtungen scheinbar endlos zum Horizont hin erstreckt.
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An der Ecke bei der Rolltreppe stehen die Leute sogar an, um sich an dieser besonders attraktiven Stelle ablichten zu lassen. So möchten sie sich offensichtlich später sehen: als Menschen im Himmel, umgeben von Wolken, am Geländer über allen Dächern lehnend.
Das Dach des Scramble Square fühlt sich an wie ein sicherer Grund. Man will gar nicht mehr runter. Aber unten wartet die Pflicht. Einmal noch in die Ferne geschaut, in der irgendwo der erhabene Berg Fuji ruhen muss. Dann geht es zurück in den Lärm, auf den Boden der Tatsachen.
Informationen: shibuya-scramble-square.com/sky