Neulich in Tokio:Lost in Trainstation

Plan Japan Tokio

Alles so schön bunt hier! Einen Plan zu haben wie diesen, das ist im öffentlichen Verkehr der japanischen Hauptstadt von relativer Bedeutung.

(Foto: Temsch)

Tokio ist wunderbar unübersichtlich. Leider bekommt die Reiseleiterin fast einen Nervenzusammenbruch, wenn sich deutsche Touristen einfach mal treiben lassen wollen.

Von Jochen Temsch, Tokio

In Japan gibt es jetzt einen Magnetschwebezug, der 603 km/h schnell fahren kann. Aber das größte Abenteuer auf Schienen ist noch immer die U-Bahn von Tokio. Allein der Streckenplan! Ein verschnörkeltes Kunstwerk aus elegant ineinander verknoteten Linien in vielen bunten Farben, immer wieder unterbrochen von den rätselhaften Zahlen 170 und 200 (den Fahrpreisen), akzentuiert von hübschen Schriftzeichen.

Aber kaum will man das abstrakte Wandgemälde fotografieren, zischt die lauteste Kosmopolitin unter den Mitreisenden: "Typisch deutsche Touristen, immer auf den Japan-Klischees rumhacken!"

Andererseits muss man schon eine sehr weit entwickelte Form von Schwarmintelligenz besitzen, um als Europäer die Unübersichtlichkeit dieser Stadt nicht bemerkenswert zu finden. Die Fremdheit und Einsamkeit, die einen inmitten der größten Menschenmassen überfallen kann, ist faszinierend. Fast 13 Millionen Einwohner leben in Tokio, 38 Millionen im Großraum der Stadt, das sind im Zentrum 15 000 Menschen pro Quadratkilometer - genau so viele wie laut offiziellen Zählungen bei einer Grün-Phase der Ampeln an der Kreuzung Bahnhofsstraße/Center-gai im Stadtteil Shibuya die Straßen überqueren.

Das Gewusel gehört zu den besten Sehenswürdigkeiten Tokios und kostet den Touristen fast nichts. Man muss nur ein U-Bahn-Ticket für 1,30 Euro lösen, in der mehrstöckigen, einem Einkaufszentrum gleichenden Station Shibuya den Ausgang in Richtung noch mehr Einkaufszentren finden und bei Starbucks beispielsweise einen Becher Grüntee-Milchschaum für drei Euro kaufen. Damit bekommt man Zugang zur ersten Etage des Cafés, durch deren Panoramafenster man den besten Überblick auf das Spektakel hat.

Die Menschen überqueren die Kreuzung anders als etwa in Deutschland in allen Richtungen gleichzeitig, auch diagonal, was dem Anbranden von Wellen bei stürmischer See gleicht - und trotzdem ohne Kollisionen funktioniert. Dann ist plötzlich Ebbe, und die Autos fahren wieder. Diese Szenen dürfen in keiner Fernsehreportage fehlen, wenn es um die Disziplin und Höflichkeit in der geschäftigen japanischen Gesellschaft geht.

Schon wieder ein Klischee! Aber an den Bahnsteigen steht man Schlange und drängelt nicht in die Waggons, uniformierte Angestellte dirigieren die Passagiere mit weißen Handschuhen pantomimisch, und die Reiseleiterin wird verrückt, wenn sich die deutschen Gäste zu individuellen Touren aus der Gruppe absondern wollen.

Wir möchten morgens den Fischmarkt sehen, bevor am Mittag der Flug nach Deutschland geht. Die Reiseleiterin muss uns beisammenhalten: Sie werden niemals hinfinden! Sie müssen sogar umsteigen! Sie werden sich verfahren! Und schließlich, als wir immer noch keine Angst vor dem Abenteuer haben: Dort ist total viel Betrieb! Ein Gabelstapler könnte Sie überrollen!

Keine 20 Minuten später sind wir da. Viel zu schnell, viel zu früh. Der Fischmarkt ist noch gar nicht für Touristen geöffnet. Ein Wachmann wirft uns aus der Halle. Dabei lächelt er und verbeugt sich drei, vier Mal.

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