Martin Meusburger, 57, ist geprüfter Berg- und Skiführer sowie Alpinausbilder des Österreichischen Bergrettungsdienstes in Bezau im Bregenzerwald. Seit mehr als 25 Jahren gibt er jeden Winter Lawinen-Sicherheitskurse für Skitourengeher und Freerider. Er erklärt, worauf es ankommt, um das Risiko zu minimieren.
SZ: Acht Lawinentote allein in Tirol und Vorarlberg am vergangenen Wochenende. Warum passieren so viele Unfälle, obwohl die Lawinenlageberichte so zuverlässig sind wie noch nie?
Martin Meusburger: Teilweise ist es Leichtsinn oder Unwissenheit, und teilweise waren die Leute zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber wenn von den Experten so eindringlich gewarnt wird wie am vergangenen Wochenende, an dem die zweithöchste Lawinenwarnstufe galt, dann darf man einfach nicht in steile und extrem steile Hänge fahren. Denn bei einer solchen Lage sind Lawinen sehr leicht auslösbar, und sie nehmen ziemlich große Dimensionen an. Leider ist die Verlockung nach einem lang erwarteten Neuschneefall bei manchen zu groß.
Skitouren und Freeriden werden immer beliebter, fast schon zum Breitensport. Warnen die Anbieter ausreichend vor den Gefahren oder werben sie nur mit sonnigen, unverspurten Hängen?
Nein. Ich denke, jeder, der Skitouren- oder Freeride-Kurse anbietet, der weist deutlich auf Gefahren und Risiken hin. Wo sind Gefahrenstellen? Wie erkennt man diese? Und was tun, wenn es zu einem Unfall kommt? Auch die Interpretation des Lawinenlageberichts, also was die fünf Gefahrenstufen bedeuten, wird den Teilnehmern vermittelt.
Bei welcher Warnstufe passieren die meisten Lawinenunglücke?
Die passieren bei Warnstufe 3. Sobald es Neuschneefälle gibt, wird die Warnstufe schnell von 2 auf 3 erhöht, weil häufig auch stürmische Winde im Spiel sind, die den Schnee verfrachten und dadurch Schneebretter bilden, die leicht auslösbar sind, wenn ein Skifahrer in steile Hänge hineinfährt. Aber genau dieser frische und unverspurte Schnee ist so reizvoll, dass sich nicht wenige trotz des Risikos hineinwagen. Da muss man sich aber gedulden und ein paar Tage warten, bis sich die Schneedecke gesetzt hat und die Gefahr wieder sinkt.
Sind junge Leute risikobereiter und also gefährdeter als ältere?
Nein, das kann man so nicht sagen. Laut Statistik sind nicht die ganz jungen Freerider zwischen 15 und 20 Jahren am gefährdetsten, sondern die Tourengeher und Freerider zwischen 25 und 45. Aber jeder Lawinentote ist eine Tragödie und einer zu viel.
Was vermitteln Sie denn bei den Lawinen-Sicherheitskursen, die Sie seit mehr als 25 Jahren anbieten?
Ein Grundkurs umfasst bei uns einen dreistündigen Theorieteil am Abend und einen Praxistag am Berg. In den drei Stunden versuchen wir, relativ viele Dinge zu erklären: Interpretation des Lawinenlageberichts, Wetterbericht, Tourenplanung, Umgang mit der Notfallausrüstung. Beim Praxistag beginnen wir dann mit den Checks, dass auch jeder sein Lawinenverschütteten-Suchgerät (LVS) bedienen kann und es während der Tour eingeschaltet ist; wir zeigen, wie man eine Hangneigung von mehr als 30 Grad erkennt, und erklären, dass ab 30 Grad Tourengeher einen Abstand von mindestens zehn Metern zueinander halten müssen, damit die Schneedecke nicht zu stark belastet wird. Und das auch schon bei Warnstufe 2. Bei Warnstufe 3 reicht ohnehin schon ein einzelner Tourengeher oder Freerider, um die Lawine auszulösen.
Wie können Anfänger erkennen, ob ein Hang 30 oder 35 Grad hat?
Es gibt wunderbare digitale Karten, die man am Handy oder am Computer anschauen kann. Das sollte man vor dem Aufbruch machen. Die Karten sind so eingefärbt, dass man sofort sieht, wie steil es ist. Unter 30 Grad ist es weiß (mäßig steil), zwischen 30 und 35 Grad ist es gelb (steil), zwischen 35 und 40 Grad orange (sehr steil) und danach rot (extrem steil). Auch die Karten-Apps von Alpenvereinaktiv über Bergfex bis zum Schweizer Alpen-Club (SAC) sind so gemacht. Zum Beispiel bei Warnstufe 3 bewegt man sich nicht im orangen oder roten Kartenbereich; in unseren Kursen zeigen wir aber auch, wie man mit zwei Skistöcken ziemlich einfach die Hangneigung im Gelände messen kann, zudem gibt es die sehr simpel anzuwendende Snowcard, um die Steilheit zu messen.
Skifahren in Italien:Der Schneespürer
Während es an der Alpennordseite bisher kaum zum Skifahren reicht, geht es im hoch gelegenen Livigno darum, Lawinenunfälle von Freeridern zu vermeiden. Keiner ist darin so gut wie Fabiano Monti. Ein Besuch.
Es heißt, der Wind ist der Baumeister der Lawinen. Zeigen Sie den Teilnehmern auch, wie man windbeeinflusste Stellen erkennen kann?
Ja. Man erkennt den Windeinfluss an der Oberfläche an sogenannten Windgangeln, auch am Anraum, also dem hinter Geländekanten abgelagerten Schnee. Bei uns kommt der Wind meist von Nordwest, das heißt, an der windabgewandten Lee-Seite lagert sich der Schnee ab und bildet Schneebretter. Bei unserem Fortgeschrittenen-Kurs schauen wir dann auch in die Schneedecke hinein, graben also ein Schneeprofil, um zu zeigen, welche Schichten darin sind und wie die physikalisch aufeinander wirken. Man kann da ziemlich gut demonstrieren, wie eine Schicht auf der anderen abrutscht, wenn Belastung von oben dazukommt. Außerdem kann man über Apps wie Snowsafe oder White Risk detaillierte und regionale Lawinenlageberichte abrufen, auf den Webseiten der Lawinenwarndienste gibt es die Daten von unzähligen Wetterstationen, die kleinräumig und aktuell Aufschluss geben über Neuschnee, Wind und Schneedeckenaufbau.
Falls trotz aller Vorsicht jemand verschüttet wird, was ist zu tun?
Bis die Bergrettung oder die Flugrettung am Unfallort ist, dauert es mindestens eine Viertelstunde. Hier gilt es, rasch zu handeln: Überblick verschaffen, Notruf absetzen, Verschüttetensuche. Da die Überlebenschancen in einer Lawine bis zu 15 Minuten relativ gut sind, danach aber rapide schwinden, ist es ganz wichtig, dass andere Tourengeher den Verschütteten mit LVS-Geräten orten, seine Position mit Sonden feststellen und ihn dann so schnell wie möglich ausgraben und Erste Hilfe leisten. Deshalb ist die Lawinenausrüstung so wichtig und das Training mit ihr. Und deshalb sollte man auch nie alleine auf Skitour gehen. Leider machen es trotzdem viele.