Sesvennahütte in Südtirol:Auf Skiern zwischen den Welten

Piz Sesvenna.

An der Sesvennascharte auf 2819 Höhenmetern blickt man auf die Schweiz, den zu querenden Gletscher und den höchsten Berg der Sesvennagruppe, den Piz Sesvenna.

(Foto: Prantl)

Rund um die Sesvennahütte überschreiten Tourengeher Grenzen: Zwischen Frühjahr und Winter, Graubünden und Südtirol, Vergangenheit und Gegenwart. Manchmal bewegen sie sich sogar zwischen Leben und Tod.

Von Dominik Prantl

Dieser Beitrag ist erschienen am 4. April 2016. Wir haben die Übernachtungspreise aktualisiert. Darüber hinaus ist der Text unverändert.

Darf man Südtirol als Italien bezeichnen? Natürlich darf man das; schließlich ist das ein freies Land, allerdings meint Andreas Pobitzer, Südtiroler Hüttenwirt der Sesvennahütte, die wiederum dem Alpenverein Südtirol (AVS) gehört: "Kann dann natürlich sein, dass du heute Abend hier nichts zu essen kriegst."

Pobitzer sagt das mit einem feinen Grinsen, und dann zählt er auf, was heute Abend hier bei weniger forschen Gästen auf den Tisch kommt: Parmesancremesuppe (fantastisch italienisch!), Salat vom Buffet (nicht aus der Konserve), Rindergulasch (regional!), Spätzle (Knödel sind leider aus), Überraschungsdessert (darf hier nicht verraten werden).

Spätestens jetzt hat man also für alle Zeiten verinnerlicht, dass die Sesvennahütte in Südtirol liegt.

Die Grenzen sind hier zwar klar definiert. Aber sie verändern sich, und manchmal sind sie für Außenstehende nicht wirklich sichtbar. Man überschreitet sie unbewusst. Das gilt für die Grenzen zwischen Ländern wie auch für Jahreszeiten. Unten im Tal ist beispielsweise schon der Frühling angebrochen, längst hat die Sonne den Schnee weich gekocht. Wer von dem kleinen Bauernhofcluster namens Schlinig auf gut 1700 Metern mit Tourenskiern losläuft, stapft daher erst einmal über schwitzende Loipen, die sich als die letzten Relikte eines erbärmlichen Winters durch die rasch grünende Landschaft schlängeln. Doch mit jedem Schritt vor- und aufwärts läuft man auch um Monate zurück, bis man oben an der Hütte plötzlich wieder von einer dicken Schneedecke umgeben ist.

Genauer gesagt stehen hier zwei Hütten: Links duckt sich mit der 1981 fertig gestellten Sesvennahütte die Gegenwart. Nur 200 Meter davon entfernt thront an einem kleinen See die Alte Pforzheimer Hütte, ein Überbleibsel der Vergangenheit, das von der Geschichte zwischen Italien, Deutschland und Südtirol hin- und hergeschubst wurde. Nach der Eröffnung im Jahr 1901 war sie ein alpines Prestigeobjekt des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins unweit der Grenze, die damals noch die Schweiz von Österreich trennte. "Die hatten auf der Hütte schon 1901 fließendes Wasser, während man sich bei uns im Dorf noch in den Sechzigerjahren am Brunnen gewaschen hat", sagt Pobitzer und fügt als Bestätigung an: "Ist so."

Es war auch so, dass die Hütte nach dem Ersten Weltkrieg und der Neuordnung der territorialen Zuständigkeiten an die Italiener fiel. Sie nutzten das Gebäude als Unterkunft für Zöllner, "um dem regen Schmuggler- und Wildereraufkommen Einhalt zu gebieten", wie es auf einer Informationstafel an der Hütte heißt. Denn geschmuggelt wurde, was die Schultern trugen, nachdem der 1910 fertiggestellte Felsenweg durch die Uinaschlucht den Materialtransfer zwischen der Schweiz und Südtirol deutlich vereinfachte.

"So, erst einmal ein Begrüßungsschnapserl"

Hütte

Sesvennahütte in Südtirol

(Foto: SZ Grafik)

"Mir wurde gesagt, dass man mit 40 Kilo Schmuggelware seine Familie drei bis vier Wochen ernähren konnte", sagt Andreas Pobitzer. 1964 zogen die Zöllner schon allein deshalb ab, weil der einstige Prachtbau ausbrannte. Seit die nutzlose Ruine 1998 wieder dem Land Südtirol übertragen wurde, kümmert sich der Förderverein Cunfin um die Restaurierung und kulturelle Belebung der mittlerweile denkmalgeschützten Hütte. Erst im vergangenen September wurde die Schmugglerausstellung "Zollfreie Zone!?" eröffnet.

Die Tür der Alten Pforzheimer Hütte ist verrammelt, der kleine Schneehaufen davor beweist: Gäste sind in der Wintersaison selten. Also rüber in die Gegenwart zu den Pobitzers und ihrer Sesvennahütte, die wie ein Sinnbild Südtirols wirkt: Man muss sie als alpiner Mensch einfach mögen. Andreas Pobitzer weiß außerdem schon bei der Ankunft haargenau, was sich für einen anständigen Wirt gehört. "So, erst einmal ein Begrüßungsschnapserl." Nach dem Begrüßungsschnapserl gibt es das Begrüßungsbier. Nach einigen Begrüßungsweinen erzählt Pobitzer schließlich seine Geschichte, die vor vier Jahren fast ein Ende genommen hätte.

"Als Junge habe ich die Hütte gehasst", sagt er. In den Achtzigerjahren war das, und der kleine Andreas verbrachte die Ferien immer bei seiner Tante auf der Sesvennahütte - in der Küche. "Rumstrolchen gibt's nicht", habe ihm der Vater klargemacht. Es gibt Schöneres für einen Heranwachsenden, als im Urlaub Teller und Gläser zu waschen. Aber als seine Tante 2001 starb, übernahm der gelernte Friseur und passionierte Skitourengeher die Küche samt Hütte dennoch. Und weil auch sein Bruder Harald mitmachte, die "Frau dahinter stand" und der Vater aus der Bank ausstieg, um ebenfalls mitzuhelfen, blieb die Hütte ein Familienbetrieb.

Sie ist das im besten Sinne. "Je kleiner der Kreislauf, desto besser", sagt Andreas und bezieht sich auf die regionalen Produkte, die laut seiner Schätzung 70 Prozent in Küche und Bar ausmachen. Vater Luis kümmere sich um die Herstellung von Kräuter- und Zirbenschnaps sowie Hollersirup, der Onkel liefert die Kartoffeln, "und die Marmelade kommt von der Schwiegermutter". Andreas Pobitzer kann noch eine ganze Zeit über kleine Kreisläufe reden: Wildfleisch vom hiesigen Jagdrevier, ach ja, und die Metzgerei Gruber in Prad am Stilfserjoch, und natürlich der Whisky unten aus Glurns. "Aber die zwei Flaschen, die ich hatte, haben mir ein paar Stubaier an einem Abend ausgetrunken."

Vielleicht kann Pobitzer auch deshalb so gut genießen - ob nun das hausgemachte Bergkräuterpesto oder die Skitour -, weil er schon mit dem Leben abgeschlossen hatte. An der Schwarzwand, einem markanten Felsriegel beim Hüttenaufstieg, der derzeit den Winter vom Sommer trennt, wurde Pobitzer samt drei Freunden von einem Schneebrett mitgerissen. "Seit 35 Jahren ist da keine Lawine runter", meint Pobitzer. An jenem Februartag 2012 aber gerieten die Schneemassen in Bewegung, Pobitzer wurde schwarz vor Augen, er dachte an seine hochschwangere Frau und daran: "Das ist jetzt der Lawinentod."

Dann sei die Lawine noch einmal in Bewegung geraten und habe die Verschütteten ausgespuckt. Als Mahnmal ließ Luis Pobitzer von dem Künstler Raimund Spiess eine Holzskulptur an der Unglücksstelle errichten. Sie zeigt vier Männer, verschmelzend, schreiend, die Arme ausstreckend. Skitourengeher kommen daran vorbei.

Reiseinformation

Anreise: Mit dem Auto von Österreich über den Reschenpass nach Burgeis und kurvenreich weiter in die kleine Ortschaft Schlinig. Dort am besten in der Nähe des Langlaufzentrums parken.

Hüttenzustieg: Im Winter und Frühjahr über die Loipen bis zur Schliniger Alm und rechts an der markanten Schwarzwand vorbei zur Hütte.

Unterkunft: Sesvennahütte, Familie Pobitzer, Zimmer mit Halbpension ab 45 Euro, AV-Mitglieder ab 38 Euro, Tel.: 00 39 / 04 73 / 83 02 34, www.sesvenna.it.

Schneelage: Bis zur Schwarzwand liegt wenig Schnee, weshalb die Skier häufig getragen werden müssen. Die beliebte Skitour auf den teils vergletscherten Piz Sesvenna ist noch sehr gut möglich.

Andreas Pobitzer sagt, er habe den Winter dennoch gerne. Die Gäste seien "noch mehr Bergsteiger, weniger verwöhnt" als im Sommer, wenn Wanderer und Mountainbiker an sonnigen Sonntagen bis zu 300 Mittagessen ordern. Pobitzer kommt am nächsten Tag auch mit auf den Piz Sesvenna, den mit 3205 Metern höchsten Gipfel im Umkreis. Auf dem Weg dorthin wird nahezu unbemerkt die Grenze zwischen Südtirol und Graubünden überquert. Der kleine Gletscher liegt auf Schweizer Boden, am Skidepot steht man wieder auf der Grenze. Am Horizont zeigt sich Italien, Südtirol liegt zu Füßen, der Gletscher hat sogar noch Pulverschnee - und das Frühjahr ist nur eine lange Abfahrt entfernt.

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