Reisebuch "Europa. Ein Gesang":Hart am Wind

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Paolo Rumiz und seine Gefährten steuerten vor allem die unbekannteren, weniger touristischen Inseln der griechischen Ägäis an. (Foto: Moritz Wolf/IMAGO/imagebroker)

Paolo Rumiz segelt von der Küste Libanons in Richtung Europa. Was er dabei erlebt, lässt ihn mit großer Sorge auf den Kontinent blicken.

Rezension von Stefan Fischer

Eine symbolträchtigere Reise als diese lässt sich schwerlich antreten. Jedenfalls nicht im Mittelmeer: Der italienische Reiseschriftsteller Paolo Rumiz ist mit drei Gefährten von der Stadt Tyros in Libanon aus mit einem mehr als hundert Jahre alten Segelschiff, der Moya, in See gestochen. Durch das Levantische, das Ägäische und das Ionische Meer geht ihre Reise, von der Rumiz in seinem Buch "Europa. Ein Gesang" erzählt, bis ins Tyrrhenische Meer an die kalabrische Westküste. Also an Zypern, der türkischen Riviera und den Kykladen vorbei, durch den Golf von Korinth weiter vor die apulische Küste bis durch die Straße von Messina. Kurz bevor das Quartett aufbricht, kommt eine rätselhafte Frau an Bord und bleibt; eine Unbekannte, über die noch zu reden sein wird.

Tyros gehört zu den ältesten dauerhaft bewohnten Städten weltweit. In der griechischen Mythologie gilt sie als der Geburtsort von Europa. Nach dieser phönizischen Königstochter ist jener Erdteil benannt, in den sie Zeus - der problematischste "Me Too"-Fall der Antike - verschleppt hatte. Von der Levante aus hat sich - über die griechischen Stadtstaaten sowie deren Ausgründungen entlang der mediterranen Küsten und schließlich über das Römische Reich das ausgebreitet, was man heute die abendländische Kultur nennt.

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Rumiz und seine Begleiter folgen demnach einer der ältesten Handels- und Reiserouten, sie begreifen sich zugleich als ein Teil dieser europäischen Kulturgeschichte. Alles, was sie unterwegs erleben, hat eine Vorgeschichte, einen Grund, steht in einem Zusammenhang. Alles hat einen Bezug zu der Idee von Europa. Für Paolo Rumiz ist Europa weniger eine geografische Kategorie als vielmehr eine kulturelle und soziale. Innere Grenzen sowieso, aber auch äußere sind demgemäß fließend.

Die kleine Besatzung der Moya ist ein Sinnbild für dieses einende Europa: Da ist Paolo Rumiz, in Triest geboren und dort sowie im slowenischen Karst wohnhaft, dann Petros, ein Grieche mit Wohnsitz in Großbritannien, Ulvi, Sohn eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter, sowie Sam, ein französischer Jude. Und dann ist da diese Frau, die Rumiz als Syrerin vorstellt, die vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat geflohen ist, über den Balkan nach Westeuropa gelangen wollte, jedoch zurückgeschickt worden ist, in Libanon geschändet wurde wie Europa von Zeus - und die nun die vier Männer überrumpelt, sie mitzunehmen als blinde Passagierin. Ihr Name, mit dem der Autor sie einführt, ist: Evropa.

Man darf anzweifeln, dass tatsächlich eine Frau an Bord der Moya war auf dieser Reise im Frühjahr 2017. Initiiert hatte sie der Schiffseigner Petros aus einer großen Wut heraus über den Ausgang des Brexit-Referendums in seiner Wahlheimat im Jahr zuvor. Petros wollte den Briten nicht verzeihen, die es gewagt hatten, "auf den Leib ihrer Ahnherrin und Stammmutter zu spucken". So zitiert ihn sein Freund Rumiz. Während England sich von Europa lossagte, schottete sich dieses Europa gleichzeitig gegen die vielen Flüchtlinge ab, die - vor allem über das Mittelmeer - Einlass begehrten und immer noch begehren.

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Ohne die Impulse aus dem östlichen Mittelmeerraum vor Jahrtausenden gäbe es kein Europa, jedenfalls nicht das uns bekannte. Um das Paolo Rumiz sich ernsthafte Sorgen macht - der Nationalismus, die Abschottung, die Bürokratie, auch die Kulturvergessenheit vieler Bewohner. Ihn schaudert, wenn er die Auswüchse des Massentourismus miterlebt, auf Mykonos und Rhodos zum Beispiel. Die All-inclusive-Urlauber, herangeflogen mit Ferienjets, die über die Moya hinwegdüsen, "degradierten die Griechen zu Servicekräften und plünderten die Seele eines jeden Ortes". Oder sie kommen in gigantischen Fährschiffen, so Rumiz, "die den Mythos der Meere zunichtemachten".

Er aber glaubt an Europa, weshalb er dessen Verkörperung - nicht als Person, aber als mythische Figur - zur Reisebegleiterin erwählt. Das ist durchaus legitim. "Europa. Ein Gesang" ist nicht ein Reisebericht, es ist Reiseliteratur - kein Roman, das definitiv nicht, aber eine Verdichtung, eine Überhöhung, eine Vergegenwärtigung des tatsächlich Erlebten, das kombiniert wird mit einem gründlichen Wissen. Um die Geschichte, die aktuelle Politik, die vielen im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge, den Spaß- und Massentourismus, die Reisefreiheit oder -unfreiheit, je nach Staatsangehörigkeit. "Europa. Ein Gesang" ist ein Buch, das sich um Grenzen nicht schert.

Paolo Rumiz : Europa. Ein Gesang. Aus dem Italienischen von Maria E. Brunner. Folio Verlag, Wien/Bozen 2023. 283 Seiten, 25 Euro.

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