Ob das Wasser der Plima jemals so stark ansteigt, dass die überdimensionale Schöpfkelle, die über diesem Gebirgsfluss angebracht ist, in ihn eintaucht? Man will es nicht hoffen, denn dann müsste im Martelltal, einem südlichen Seitental des Vinschgaus, der Katastrophenfall ausgerufen werden. Sofern man sich von zuständiger Seite nicht blind darauf verlassen mag, dass die Staumauer des Lago Gioveretto knapp unterhalb des Talschlusses derlei Wassermassen aufhalten könnte.
Aber ein Gedankenspiel ist es doch, das einen befällt, wenn man in diese metallene Kelle hinuntersteigt vom oberen Rand der Plima-Schlucht in Richtung des Flussbetts: dass man da im Küchengerät eines Bergriesen herumkraxelt und womöglich jeden Augenblick untergerührt wird in das gleichmütig gurgelnde Wasser unter einem. Die Kelle ist eine von vier Aussichtspunkten, die im vergangenen Herbst an der Schlucht angebracht worden sind und von diesem Jahr an Wanderer näher an den Fluss bringen sollen. Offiziell eingeweiht wird der neue Plima-Schluchtenweg am 18. Juni.
Man konnte auch früher schon vom Talschluss des Martelltals entlang der Plima aufsteigen zur Zufallhütte. Deren Wirt Ulrich Müller erwartet insofern nicht unbedingt mehr Gäste durch die freischwebenden Aussichtspunkte: "Der neue Plima-Schluchtenweg ist in dem Sinn keine zusätzliche Infrastruktur, sondern nur eine weitere Attraktion für Wanderer, die wir ohnehin schon haben." Ein paar zusätzliche Berggänger könnte der Weg aber durchaus anlocken. Eine Attraktion sind die Stahlkonstruktionen nämlich in der Tat: Bislang kam man an den Rand der Schlucht, durch die die Plima von knapp oberhalb der Zufallhütte (2256 Meter) bis hinunter zum Talschluss (2068 Meter) fällt und fließt, nicht heran. Der Wanderweg führt nie wirklich an den Fluss oder die Kante der Schlucht.
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Das ermöglichen erst die neuen Aussichtspunkte, deren Bau insgesamt 540 000 Euro gekostet hat. Den ersten, die Kelle, findet man gar nicht ohne Weiteres, trotz eines Schildes, das vom Wanderweg an die Abbruchkante weist. Es kann passieren, dass man einen falschen Trampelpfad durch den Bergwald nimmt, der einen dann auch an die falsche Stelle der Absperrung bringt. Erst wenn man unmittelbar vor ihr steht, sieht man die Kelle, die in die Schlucht hinunterführt. Dort weitet sich der Blick auf einen Abschnitt der Schlucht und hinaus aus dem Martelltal.
Es gehe, sagt die Meraner Architektin Heike Pohl, die den Schluchtenweg federführend konzipiert hat, genau um dieses Erlebnis: dass man noch sicheren Boden unter den Füßen hat und doch schon über dem Abgrund schwebt, der je nach Aussichtspunkt fünf oder zehn oder noch mehr Meter nach unten führt. Das Konzept für diesen Schluchtenweg gibt es seit vielen Jahren, 2011 hat Heike Pohl mit den Partnern ihres Architekturbüros ein erstes Konzept erstellt. Der Schluchtenweg liegt im Nationalpark Stilfserjoch, die Baustellen mussten auf ein Minimum beschränkt werden.
Deshalb wurden die Aussichtsplattformen vorgefertigt und dann mit einem Hubschrauber an den Platz ihrer Verankerung geflogen - sie durften die Maximallast der Helikopter nicht überschreiten. Sie versinnbildlichen also auch insofern einen Balanceakt, als sie eine schützenswerte Bergwelt erlebbar machen wollen - was ein gewisser Widerspruch in sich ist. Doch nur was dem Menschen etwas bedeutet, das will er auch bewahren. Dafür muss er es jedoch kennen. Insofern kann es auch hilfreich sein, die Alpen für Wanderer mancherorts zu inszenieren.
Steigt man von der Kelle aus weiter hinauf, gelangt man erst zur Sichel, einem begehbaren Halbrund, das über die Kante der Schlucht hinausragt, und dann zu einer Kanzel, die einen über den Rand der Schlucht noch einmal emporhebt. Auf Höhe der Zufallhütte führt eine neue Hängebrücke über die Plima. Früher musste man eine Viertelstunde weiter aufsteigen und in einem Bogen wieder zur Hütte hinunter. Für einige Skitouren sowie die Besteigung der Vorderen Rotspitze von der Hütte aus ist diese Abkürzung eine Erleichterung.
Denn von der Zufallhütte aus kann man in mehrere Richtungen weiter in den Nationalpark vordringen, auf hochalpinen Touren etwa zur Madritschspitze oder auf Gletschertouren über die Zufallspitze und den Monte Cevedale. Bis zur Zufallhütte aber ist man in einem Familienwandergebiet unterwegs, selbst Vorschulkinder schaffen den Plima-Schluchtenweg. Auch, weil er viele Ablenkungen bietet, nicht nur die Aussichtspunkte. Man kommt an dem verfallenden, seit Jahrzehnten leer stehenden Hotel Paradiso vorbei und an einem Weiher mit Kaulquappen und Wasserläufern. Um diese Jahreszeit liegen auch noch Schneereste, die beklettert und bespielt werden können. Wer es darauf anlegt, schafft die fünfeinhalb Kilometer lange Rundtour in eineinhalb Stunden, mit Kindern wird daraus aber eine Halbtagestour. Denn es gibt ja auch noch die riesigen Ameisen zu beobachten, dazu Eidechsen und Schmetterlinge. Nur die Adler ziehen an diesem Tag ihre Kreise außer Sichtweite.
Dafür gibt es, wieder unten angekommen, kleine Glocken an einem Souvenirstand. So ist allen Schäfchen geholfen.