Tourismus auf dem Balkan:Ein Wanderweg, der Mauern einreißen soll

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Die weiße Route führt durch Karstschluchten, Urwälder und durchs Hochgebirge. (Foto: Florian Sanktjohanser)

Die Via Dinarica führt von Slowenien bis Albanien. Für einstige Soldaten des Balkankrieges sind es die "Scheißberge" - doch heute können Wanderer dort besondere Schönheit entdecken.

Von Florian Sanktjohanser

Wie man sich elegant durch die Latschenkiefern schlägt, lernte Kenan Muftić von den Bären. "Du musst auf den Ästen gehen", ruft er. "Das geht viel schneller, als die Zweige beiseite zu schieben." Das ist durchaus eine wichtige Lektion hier in den wilden Bergen Bosnien-Herzegowinas, wo der Weg schon mal in einem Dickicht verschwindet. Oder vor einem roten Schild mit Totenkopf abbiegt.

Muftić ist der Mann, den man hier an seiner Seite haben will. Der drahtige 42-Jährige mit dem Henri-Quatre-Bart kennt sich aus mit den roten Schildern; er räumte 15 Jahre lang Landminen in Angola und Äthiopien, in Tadschikistan und Mosambik. Und natürlich hier, in seiner Heimat Bosnien. Vor allem aber ist er einer der wenigen Menschen, die den neuen Superwanderweg über den Balkan ganz gegangen sind.

Ehemalige Soldaten sagen: "Ich war drei Jahre in den Scheißbergen. Das reicht."

Via Dinarica heißt das megalomanische Projekt, es verbindet Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro sowie Albanien und damit Länder, die zum Teil seit Jahrhunderten Rivalen oder sogar verfeindet sind. Als wäre diese Aufgabe nicht schon schwierig genug, entwarfen die Macher nicht einen Weg, sondern gleich drei verschiedene. Die blaue Route folgt der Küste, die grüne Route führt durch die Wälder im Landesinneren und soll vor allem Mountainbiker anlocken. Der Königsweg aber ist die weiße Route: 1260 Kilometer auf dem Rückgrat der Dinarischen Alpen. Sie führt an den höchsten Bergen entlang, dem 2386 Meter hohen Maglić in Bosnien, dem 2522 Meter hohen Bobotov Kuk in Montenegro sowie dem 2694 Meter hohen Jezerca in Albanien. Ihr folgte Kenan Muftić, von der Postojna-Höhle in Slowenien bis zum Valbonatal in Albanien. 54 Tage brauchte er dafür, seine Route nahm er mit dem GPS-Gerät auf. Aus den Daten wurde die erste Onlinekarte für den neuen Weg.

Noch ist die Via Dinarica vor allem eine Vision, aber die Völker verbindende Idee brachte ihr Fördergelder und viele Vorschusslorbeeren ein. 2014 wählte das renommierte Outside Magazine aus den USA sie zum besten neuen Wanderweg, National Geographic adelte sie als einen der "Best Trips" im Jahr 2017.

SZ-Karte (Foto: SZ-Karte)

Von einem überlaufenen Modeweg ist sie trotzdem noch weit entfernt. Im Čvrsnica-Massiv, einem der schönsten Abschnitte, wandert man schon mal zwei Tage durch Buchenwälder und Karstfelsen, über Blumenwiesen und Grate mit fantastischer Fernsicht - und begegnet kaum einem Menschen. Nur einmal treffen wir ein Paar aus Split, sofort beginnt eine herzliche Unterhaltung auf Serbokroatisch, Englisch und Französisch. "Wir Bosnier haben keine Outdoor-Kultur wie ihr in Westeuropa", erklärt Muftić während einer der seltenen Pausen. "Die Berge werden mit dem harten, mühseligen Leben assoziiert, mit strengen Wintern, wilden Tieren, dem Überlebenskampf." Und dem Krieg. "Viele Soldaten von damals sagen: Ich war drei Jahre in den Scheißbergen, das reicht."

Dabei gibt es durchaus eine Wandertradition, begründet von den Österreichern, mit 120 Jahre alten Alpenvereinen und einem Netzwerk von markierten Wegen, das ganz Jugoslawien durchzog. Ein Fernwanderweg sei sogar unter Tito angelegt worden, sagt Muftić, von Sarajevo bis Montenegro. Über den Traum namens Via Dinarica schrieb aber erst 2006 der kroatische Bergfanatiker Gordan Papac im Bergsteigerforum Summitpost.

"Das Ziel ist, die Höhepunkte der Dinarischen Alpen zu verbinden und einen nachhaltigen Tourismus zu etablieren", sagt Muftić. Die Bewohner der Dörfer am Wegesrand sollen Zimmer und Mahlzeiten anbieten. "Die Leute werden durch die Wanderer nicht reich werden", sagt Muftić. "Aber sie können genug verdienen, dass sie ein Interesse daran haben, die Natur zu schützen." Ohne Tourismus würden Wälder abgeholzt, Minen gebaut, Staudämme errichtet.

Was auf dem Spiel steht, zeigt Muftić auf dem Gipfel des Kleinen Vilinac. Ringsum sind bis zum Horizont wilde Berge zu sehen. Adler kreisen, kein Skilift, kein Dorf, keine Fabrik stört das Idyll. Gleich unterhalb liegt eine der Ikonen der Via Dinarica: das Hajducka Vrata, ein riesiger Felsbogen, benannt nach den rebellischen Heiducken, die osmanische Karawanen ausraubten und noch heute als Volkshelden besungen werden. "Ich nenne es Stargate", sagt Muftić. Die Kulisse ist allerdings noch grandioser als im Fantasy-Film: bewaldete, grüne Bergflanken und Felswände, die Hunderte Meter in die Tiefe stürzen. "Unser Grand Canyon."

Eine Wandertradition gibt es in Bosnien nicht - manchmal trifft man tagelang keine anderen Menschen. (Foto: Florian Sanktjohanser)

Keine Frage, an Schönheit mangelt es der Via Dinarica nicht: die Karstschluchten des Velebit-Gebirges in Kroatien, das Durmitor-Massiv und die Schlucht der Tara in Montenegro, der Urwald des Sutjeska Nationalparks in Bosnien-Herzegowina. Was fehlt, ist die Infrastruktur. Wege müssen markiert und beschildert werden, die bisher arg rustikalen Schutzhütten gehörten renoviert. "Derzeit ist es praktisch unmöglich, den Weg ohne Hilfe zu wandern", sagt Tim Clancy. Man brauche einen Reiseveranstalter, der einen zu den Startpunkten der schönsten Etappen fährt und wieder abholt. Clancy, 47, ist Entwicklungshelfer und einer der Väter der Via Dinarica. Der US-Amerikaner kam kurz nach dem Ende des Bürgerkriegs als Freiwilliger nach Bosnien, für drei Wochen, dachte er. Erst verliebte er sich in das Land, dann in eine Frau. Und blieb bis heute.

"Wir wollen Mauern niederreißen", sagt Clancy, "und jeder bekommt ein Stück vom Kuchen." Beim Verteilen müsse man hier allerdings sehr sensibel sein. Deshalb wurden auch gleich drei Wege entworfen, um möglichst viele Regionen einzubinden. Als würde das nicht reichen, hat Thierry Joubert, ein Reiseveranstalter und früherer Geschäftspartner Clancys, den Weg mit Unterstützung der Entwicklungshilfe-Behörde US Aid bis Mazedonien verlängert. Eine "seltsame unilaterale Entscheidung", sagt Clancy. Er dagegen hält an der kürzeren Variante bis Albanien fest. Die Berge Mazedoniens gehörten geografisch nicht zu den Dinarischen Alpen, erklärt er. Trotz aller Hakeleien ist Clancy überzeugt, dass die Via Dinarica funktionieren wird. Zumindest für westliche Wanderer sind die Grenzübertritte meistens kein Problem. Dort, wo es etwas komplizierter werden könnte, habe man die Wegführung laut Clancy entsprechend angepasst, weshalb die Grenze von Kroatien nach Bosnien nahe dem Buškosee passiert wird.

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Wie der Tourismus irgendwann aussehen könnte, zeigt Clancy in Lukomir. Auf der Fahrt zu dem Bergdorf per Geländewagen hoppelt ein endloser Strom von Schafen über den Feldweg, bei der Ankunft ist es fast dunkel. Umso stärker ist das Gefühl, in einem anderen Jahrhundert gelandet zu sein. Die niedrigen Steinhäuser sind mit Schindeln gedeckt, keine Lampe erhellt die Straße. Hirtenhunde kläffen, Zikaden zirpen. Und doch ist nichts wie früher.

In den Dörfern wird für Kaffee und Kuchen meist kein Geld angenommen

"Nur noch 30 Schäfer leben hier", sagt Tim Clancy, "vor 50 Jahren waren es zehn Mal so viele." Im Winter ist das Dorf seit einigen Jahren ganz verlassen. "Es ist fast in jedem Dorf das Gleiche", sagt Clancy. "Die Jungen gehen in die Städte, nur die Alten bleiben an den Orten ihrer Kindheit. Diesen Prozess der Landflucht wollen wir stoppen. Oder sogar umkehren."

Das Symbol der Hoffnung ist die alte Schule. Als Clancy 1998 das erste Mal hierher kam, war sie eine Ruine. Mit Entwicklungshilfe-Geldern wurde sie renoviert, jetzt können Wanderer in modernen Zimmern übernachten. Und Spezialitäten wie Uštipak probieren, die bosnische Pizzavariante mit Schafskäse.

"Die Leute im Dorf haben jahrelang kein Geld angenommen", sagt Clancy. "So ist das überall, immer wird man gleich zu Rakija und Kaffee eingeladen." Wie zum Beweis führt er durch eine niedrige Stube, die aussieht wie ein Heimatmuseum: ein alter Ofen, eine Holzleiter auf den Dachboden, an der Wand ein Schaffell und ein Bild der Blauen Moschee. Hier sitzt Vejsel Comor und lächelt über die neue Zeit. "Früher war Deutschland weit weg", sagt der 79-jährige Schäfer. "Jetzt kommen sogar Australier hierher." Seine Frau Rahima gießt Mokka aus einer Kupferkanne nach, keine Widerrede, und Vejsel erzählt von den Radlern und Wanderern, die seit ein paar Jahren fast an jeden Sommertag zu Besuch kommen. Rahima verkauft ihnen nun Socken, er geschnitzte Löffel und Gabeln.

Die Enkelin kommt dazu, sie ist für die Sommerferien aus Sarajevo gekommen. "Mir gefällt es hier gut", sagt sie, "meine Oma hat viel zu erzählen." Nur dass es kein Internet gibt, das nerve doch arg.

© SZ vom 20.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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