Kleine Skigebiete: La Grave in Frankreich:Immer schön wild bleiben

Lesezeit: 3 min

Nach La Grave kommen die besten Freerider zum Trainieren, hier der Athlet Andrzej Bargiel. (Foto: picture alliance/Red Bull via AP)

La Grave gilt als eines der besten Freeride-Gebiete der Welt. Neue Lifte sind dort unerwünscht - und wer sich in die Tiefschnee-Hänge wagt, sollte genau wissen, was er tut.

Von Nadine Regel

Über Nacht hat es noch einmal etwa 20 Zentimeter geschneit. Entsprechend groß ist der Rummel an der Talstation von La Grave. Dicht gedrängt warten die Skifahrer auf die erste Fahrt nach oben. Viele sind mit Klettergurt und Eispickel ausgestattet, um sich in steiles Gelände abseilen zu können, fast alle tragen einen Lawinenrucksack; Wortfetzen in Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch sind in einem Wirrwarr an Sprachen herauszuhören. Trotzdem behauptet Pierre Rizzardo: "Wir sind hier eine eingeschworene Gemeinschaft."

Rizzardo, 50 Jahre alt, athletischer Körper, markantes Gesicht, arbeitet seit 26 Jahren als Bergführer. Er lebt mit seiner Frau und den zwei Adoptivkindern aus Vietnam und China das ganze Jahr über in La Grave und ist einer der wenigen, dessen Familie aus dem kleinen, französischen Bergdorf stammt. Auf den ersten Blick hat La Grave nicht viel zu bieten: graue Steinhäuser, einige Ausrüstungsläden, zwei Hotels, eine Kirche. Keine Après-Ski-Partys mit DJ Ötzi, keine großen Hotels. Nur zwei Lifte erschließen den Berg. Einer davon ist die "Téléphérique des Glaciers de la Meije" - die Gondelbahn, die schon seit den Siebzigerjahren in Betrieb ist. Die gelben, orangenen und roten Gondeln heben sich deutlich vor der steilen Bergflanke ab. Fünf fahren hoch, fünf kommen auf der anderen Seite zurück. Demnächst werden die Gondeln ausgetauscht - weder Kapazität noch Farbe sollen sich dabei ändern. Es braucht schlicht nicht mehr.

Denn das Skigebiet "La Grave-la-Meije", wie es die Einheimischen nennen, ist neben Chamonix eines der bekanntesten Skigebiete für Extremskifahrer und damit für die Welt jener Abseitsfahrer, die mit einem Minimum an Infrastruktur auskommen. Große Pisten und Liftgigantismus finden sich anderswo, bei den namhaften Nachbarn Les Deux Alpes und Alpe d'Huez zum Beispiel. Nach Auslaufen des alten Pachtvertrags vor drei Jahren übernahm der Betreiber von Alpe d'Huez das Gebiet La Grave. Das schürte in der Freeridergemeinde Ängste vor gewalzten Pisten und Massentourismus. Im Pachtvertrag ist aber festgelegt, dass unter 3200 Metern keine neuen Lifte oder Pisten errichtet werden dürfen. Auch ein Zusammenschluss mit Les Deux Alpes ist nicht vorgesehen - was nicht nur die erschließungsskeptischen La-Grave-Fans freut, sondern auch die Bewohner der kleinen Gemeinde. Man darf Rizzardo wohl glauben, wenn er sagt: "An einer Verbindung mit Les Deux Alpes hat hier niemand Interesse."

Dabei war das Bergmassiv zunächst vor allem unter Bergsteigern bekannt, die sich an dem 3983 Meter hohen Berg La Meije als einem der schwierigsten Gipfel der Alpen versuchten. Später kamen Sommertouristen dazu, die vom Gletscher aus die schöne Sicht ins Tal genießen wollten. Erst nach und nach entdeckten Skifahrer das Gebiet für sich, das lange ein Geheimtipp blieb. Mittlerweile beginnt die Hauptsaison Ende Dezember und endet im April.

"Im Schnitt kommen 500 bis 600 Skigäste am Tag", sagt Jean Pierre Sevrez, seit 2008 Bürgermeister des Ortes. "Das reicht auch vollkommen aus", so der 62-jährige ehemalige Bergführer. Es gebe ohnehin nicht so viele Skifahrer, die den Bedingungen in La Grave gewachsen sind. Eine Zeit lang habe es eine Verbindungspiste über den Gletscher nach St. Christoph südlich der Meije gegeben, die jetzt aber nicht mehr präpariert wird. Auf Spuren blindlings zu vertrauen, kann einem zum Verhängnis werden, weil das Gelände zum Tal hin extrem steil abfällt. Lediglich unscheinbare Seile geben Hinweis darauf, dass es dahinter anspruchsvoll wird. Erst am Vortag ist ein russischer Skifahrer ums Leben gekommen, weil er in ein stark vereistes Couloir fuhr und in den Tod stürzte. "Alpinskifahrer, die mit dem Gelände abseits der Piste nicht vertraut sind, bringen sich selbst und andere in La Grave in Gefahr", sagt Bürgermeister Sevrez.

Abseits der Piste
:"Die Leute fahren der Gams durchs Wohnzimmer"

Immer mehr Skifahrer verlassen die Piste: Ulf Dworschak vom Nationalpark Berchtesgaden erklärt, warum das nicht nur für Schneehühner gefährlich ist.

Interview von Eva Dignös

Entsprechend wichtig ist auch die tägliche Entscheidung, ob die Gondelbahn geöffnet wird oder nicht. Das ist sogar Aufgabe des Bürgermeister. Täglich erarbeitet eine Kommission aus Skipatrouille und Bergführern eine Empfehlung für ihn. Dabei werden Lawinen- und Wetterlage beurteilt. Ein großer Teil der Verantwortung bleibt aber bei jedem einzelnen Skifahrer. Vor dem Ticketkauf checkt die Skipatrouille stichprobenartig, ob die Skifahrer Ausrüstung und das nötige Wissen besitzen - oder mit Guide unterwegs sind.

Heute hat die Gondelbahn jedenfalls geöffnet. An der Bergstation erinnert erst einmal wenig daran, dass man sich in einem teils extrem schwierigen Terrain befindet. Nach Osten erstreckt sich der breite Gletscher Girose in sanften Bahnen. Etwas weiter oberhalb wird der mit 3600 Metern höchste Punkt des Skigebietes von einem Schlepplift erschlossen, der jedoch nur mit Tourenskiern oder einer Pistenraupe zu erreichen ist. Links und rechts neben dem Schlepplift befinden sich auch die einzigen präparierten Pisten des gesamten Gebietes. Unterhalb der Bergstation wird es ernster: Hier verlaufen die zwei klassischen Skirouten Les Vallons de la Meije und Vallons de Chancel zwischen spitzzackigen Felsen sowie Abzweigungen zu diversen Steilrinnen. "Man kann sich hier sehr schnell verfahren", sagt Pierre Rizzardo.

Die Bedingungen im oberen Bereich sind perfekt: Neuschnee auf einer festen Schneegrundlage. Doch die einzelnen Streckenabschnitte hinunter zum Fluss auf 1450 Metern erfordern den kompletten Skifahrer: erst Pulverschnee, an exponierten Hängen harschige Abschnitte, im Wald wilde Buckelpiste, in steilen Rinnen spiegelglattes Eis. Und spätestens jetzt ist klar, warum hier nur Profis eine Chance haben.

© SZ vom 21.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Tipps zum Sonnen-Skifahren
:Die schönsten Skigebiete - ganz subjektiv

Lieber klein und nostalgisch oder doch riesig mit ewig langen Talfahrten und wilden Buckelpisten? SZ-Autoren verraten, wo sie selbst gerne Ski fahren - und wo die Pausen am schönsten sind.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: