Fotograf Olaf Heine:"Brasilien ist Chaos, das funktioniert"

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Capoeira-Tänzer in der Favela Vidigal, Rio de Janeiro (Foto: Photo © 2014 Olaf Heine)

Seine Bilder zeigen die Sinnlichkeit Brasiliens. Der Berliner Fotograf Olaf Heine ist so fasziniert von dem Land, dass er immer wieder dorthin reist. Ein Gespräch über Bossa Nova, Schwermut und symbolisches Stromkabel-Durcheinander.

Von Katja Schnitzler

Als Olaf Heine den Star-Architekten Oscar Niemeyer kurz vor dessen Tod im Dezember 2012 besuchte, war ihm schnell klar: Er will sich auf die Spuren des Brasilianers begeben. Der Porträtfotograf, der sonst vor allem Musiker und Mode in Szene setzt, entdeckte nach und nach das Land für sich. Und die Wahrheit in Niemeyers Worten: "Das ganze Universum ist aus Kurven gemacht." Die entstandenen Schwarz-Weiß-Fotos sind im Bildband "Brazil" (teNeues Verlag) zu sehen und bis 21. Juni in der Galerie Camera Work in Berlin.

SZ.de: Das weiche Licht am Morgen, die grelle Mittagssonne oder das rote Abendlicht - welche Stimmung beschreibt Brasilien am besten?

Olaf Heine: Eigentlich der Sonnenuntergang oder das Blau der Abenddämmerung - manchmal aber auch das Weiche des Morgens. Vor allem an den endlosen Stränden, wenn sie noch menschenleer sind.

Surfer am Strand "Recreio" (Foto: Photo © 2014 Olaf Heine)

Was macht Brasilien für Sie zu einem Sehnsuchtsort?

Das Land ist selbst voller Sehnsucht. Und auch Schwermut findet man überall. Beim Bossa Nova ist der Rhythmus leicht, die Texte aber tief melancholisch. Brasilien ist ein Land der Gegensätze. Dem strahlenden Aufschwung von Wirtschaft und Kultur der letzten Jahre steht Armut und Gewalt gegenüber. Das sieht man vor allem, wenn man am Strand von Ipanema steht, sich umdreht und auf eine riesige Favela blickt. Oder wenn in Bahia eine teure WM-Auslosung stattfindet und ein paar Ecken weiter die Menschen hungern. Das sieht jeder, der nicht nur in eine Richtung blickt.

Bossa Nova ist die Musik der 1960er Jahre. Findet man das Lebensgefühl von damals heute noch?

Abseits der Touristenfallen wird die Bossa Nova auch heute noch gespielt, oft allerdings in elektronischen oder Lounge-Versionen. Und wie in den Sechzigern erlebt das Land gerade einen unglaublichen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Allerdings kommt in Gesprächen mit den Menschen die Angst durch, dass dieser Aufschwung nur einen bestimmten Teil der Bevölkerung erreicht - damals endete der Aufschwung immerhin in einer Diktatur. Auch deshalb protestieren die Leute heute auf der Straße

Bildband Brazil von Olaf Heine
:Im Land der Kurven

Der Berliner Fotograf Olaf Heine zeigt die Sinnlichkeit Brasiliens und verzichtet dabei auf plakative Farbe - schließlich geht es ihm vor allem um die Form.

Sie haben auch in Favelas fotografiert. Haben die sich im Vergleich zu früheren Besuchen verändert?

Als ich Ende der 90er-Jahre erstmals nach Brasilien kam, war ich geschockt von der Brutalität und dem harten Leben in den Favelas. Das passte nicht zu dem romantischen Bild, das ich als junger, naiver Westeuropäer hatte. Heute hat sich einiges zum Positiven entwickelt. Aber die Veränderungen in den Favelas sind nicht schlicht gut oder schlecht. Wenn man sich mit Menschen unterhält, sagen einige, dass sie früher, als die Drogenkartelle herrschten, wenigstens das Gesetz der Straße kannten. Heute kontrolliere und säubere die Polizei die Viertel willkürlich. Dennoch haben viele Menschen die Chance des Aufschwungs genutzt und ihren Bezirk weiterentwickelt.

Wo haben Sie das beobachtet?

Zum Beispiel in Rocinha, früher eine der größten Favelas in Rio: Hier sind viele bunte Steinhäuser entstanden, Straßen wurden begrünt. Auf einem Dach wurde ein Schwimmbad für die Kinder des Viertels gebaut, und eine kleine Surfschule bringt ihnen auf gebrauchten Brettern Surfen bei. Die Gemeinde hat ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.

Dennoch ist Rocinha für Fremde nicht wirklich der ideale Ort, um sich treiben zu lassen ...

Ich würde niemals allein in eine Favela gehen. Mich hat immer jemand begleitet, der sich dort auskennt. So konnte ich die Menschen in den Straßen fotografieren. Dort habe ich auch eines meiner Lieblingsmotive gefunden: Strommasten, die mit Hunderten chaotisch und scheinbar willkürlich verlegten Kabeln Tausende Häuser verbinden. Ein Sinnbild für Brasilien. Jeder schließt sich irgendwie wahllos an und dennoch funktioniert es. Das steht für mich für die brasilianische Kultur. Sie besteht aus einem Knäuel an Lebenslinien, keiner blickt durch und dennoch klappt es. Wenn nicht heute, dann morgen: Brasilien ist Chaos, das funktioniert.

Vielleicht auch ein Grund, warum in Brasilien vieles leicht wirkt - trotz Armut und Kriminalität. Wie zeigt sich dieses Lebensgefühl noch?

Als eher kühler Norddeutscher muss ich sagen: In Brasilien wirkt alles leichter und leidenschaftlicher. Bei uns steht man ordentlich beim Bäcker an, jeder bestellt seine Schrippen - da wird nicht viel kommuniziert. Auf der Straße laufen die Menschen anonym und still aneinander vorbei. Aber in Brasilien lachen die Menschen, sie sind aufgeweckter und aufgeschlossener. Es liegt immer Musik in der Luft, nicht nur zur Zeit des Karneval - dann ist sowieso Party an jeder Straßenecke. Das Fußballspiel der Brasilianer ist leichter, die Musik sinnlicher, die Bauten runder und einfach schöner. Und man lernt sofort Leute kennen. Vielleicht kompensieren die Menschen mit ihrem Lebensgefühl andere Elemente ihrer Kultur.

Hatten Sie das Gefühl, selbst ein Teil dieser Stimmung zu sein?

Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt sein wollte. Ich bin als Fotograf lieber der stille Beobachter. Aber ich habe versucht, das Gefühl zu absorbieren und in meine Arbeit einfließen lassen. Sonst bin ich sehr organisiert, aber in Brasilien habe ich gelernt, mich treiben zu lassen. Was auch daran lag, dass ich auf Übersetzer angewiesen war oder mich mit Händen und Füßen verständigen musste. Dann dauert alles ein bisschen länger und ich wurde geduldiger. Aber meine Fotos wurden dadurch noch spontaner und sinnlicher.

Ausschlaggebend für Ihren ersten Besuch in Brasilien war Oscar Niemeyer. Was hat Sie gereizt?

Ich wollte vor allem Brasília sehen und habe Oscar Niemeyer kurz vor seinem Tod sogar noch getroffen. In São Paulo und Rio de Janeiro wollte ich die kurvigen, leichten Linien in Bildern auffangen, sei es in Niemeyers Architektur, in der Landschaft oder in den Körper von Tänzern und Surfern. Und in Brasilien gibt es so viele schöne Orte. Niemand, der nur nach Rio reist, kann sagen, er habe Brasilien gesehen.

Wohin sollte man denn unbedingt fahren?

Dünen in Mangue Seco im Norden Brasiliens (Foto: Photo © 2014 Olaf Heine)

Der Norden ist landschaftlich unfassbar schön und wird umso schöner, je weiter nördlich man kommt. Etwa in Mangue Seco an der Grenze zwischen den Bundesstaaten Bahia und Sergipe: eine Halbinsel, die zum Teil nur aus riesigen, weißen Sanddünen besteht.

Oder der Nationalpark Jericoacoara im Bundesstaat Ceará, der vor allem unter Wind- und Kitesurfen berühmt ist: Zwischen den Wanderdünen, die bis zu 20 Kilometer ins Land reichen, sind Süßwasserseen versteckt. Damit das Idyll im Fischerdorf mit Palmen erhalten bleibt, ist dort zum Beispiel Straßenbeleuchtung verboten - immerhin gibt es inzwischen Strom.

Und was empfehlen Sie Reisenden, die lieber in der Nähe von Rio oder São Paulo bleiben wollen?

Nahe São Paulo liegt die Ilhabela: Dieses ruhige und kleine Eiland mit tollen Stränden heißt genau richtig "schöne Insel". Und natürlich Rio de Janeiro selbst: Im Viertel westlich von Ipanema, Leblon, gibt es tolle Bars; und in dem deutschen Auswandererviertel Santa Teresa treffen sich Künstler.

Casa das Canoas von Oscar Niemeyer in Rio de Janeiro (Foto: Photo © 2014 Olaf Heine)

Mir gefällt auch das Casa das Canoas, Oscar Niemeyers erstes eigenes Wohnhaus, das 1951 in São Conrado in Rio errichtet wurde. Der Besucher geht einen Hang hoch und da steht es, mitten zwischen grünen Bäumen - und fühlt sich wie im Dschungel. Ein Stockwerk ist fast vollständig von Glaswänden umgeben, darüber scheint auf dünnen Stahlträgern das kurvige Flachdach zu schweben. Derzeit wird das Haus allerdings restauriert.

Was raten Sie da enttäuschen Niemeyer-Fans?

Das zeitgenössische Museu de Arte Contemporânea in Niterói (Foto: Photo © 2014 Olaf Heine)

Sie fahren am besten nach Niterói: Die Stadt liegt auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht und bietet so einen schönen Blick auf Rio. Außerdem gibt es dort den Caminho Niemeyer mit drei schönen Gebäuden, die er erbaut hat. Und ein gelandetes Ufo: Das zeitgenössische Museu de Arte Contemporânea wurde ebenfalls von Oscar Niemeyer entworfen und liegt wunderschön auf einer Felsspitze gegenüber dem Zuckerhut.

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