Neue Formen des Gedenkens hat der Bundespräsident angemahnt, und der Deutsche Bundestag hat im Herbst 2020 die Errichtung einer "Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft" beschlossen. Die Anregung kam aus der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Ein Ort soll entstehen, der dem Terror und den Leiden aller Opfernationen gewidmet ist, auch den Kriegsgefangenen unter deutscher und nationalsozialistischer Herrschaft. Auf dem Weg dahin liegt auch der Rückblick auf die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht", deren Eröffnung nun 20 Jahre zurückliegt.
Es war also nicht nur Hitlers Kamarilla
Nach dem Eichmann-Tribunal 1961, den Auschwitz-Prozessen und, vor allem, dem TV-Ereignis "Holocaust" 1979 war die Wehrmachtsausstellung der notwendige Paukenschlag im kollektiven Erinnern. Initiiert und finanziert vom Hamburger Institut für Sozialforschung wurde sie im März 1995 eröffnet und wanderte vier Jahre lang durch deutsche und österreichische Städte. Das Projekt setzte auf Aufklärung durch Information, löste nicht nur eine wichtige Bundestagsdebatte (am 13. März 1997) aus, sondern konfrontierte zum ersten Mal das breite Publikum mit dem Trugbild, dass die "saubere Wehrmacht" einen ehrenvollen Krieg gekämpft habe, während das Menschheitsverbrechen Holocaust, die praktizierte Rassen- und Vernichtungsideologie gegen die Sowjetunion und deren Zivilgesellschaft von bösen Mächten und den Schurken der Kamarilla Hitlers, also einer Minderheit fanatischer Nationalsozialisten, verübt worden seien. Quasi hinter dem Rücken der tapferen Wehrmacht und unbemerkt von der Mehrheit braver und ahnungsloser Deutscher sei das Unheil geschehen, an dem die Mehrheit keinen Anteil habe, sich deshalb auch nicht erinnern oder gar der Opfer trauernd gedenken müsse.
Gedenken:Das letzte Foto
Eine neue Initiative will unbekannte Aufnahmen von Deportationen im NS-Staat ausfindig machen - um der Opfer zu gedenken und die vorherrschende Täterperspektive zu durchbrechen.
Die Ausstellung zeigte, wie die Wehrmacht die Intention des Vernichtungskriegs im Osten mitgetragen hatte, dass die Missachtung des Völkerrechts gegenüber Kriegsgefangenen der Roten Armee, gegenüber "bolschewistischen Kommissaren" und der Zivilbevölkerung insgesamt zur deutschen Strategie gehörten. In Fotos und Dokumenten zeigte die Ausstellung nicht nur die Kriegsverbrechen der Wehrmacht, sondern auch Szenen des Judenmords wie in Kriwoj Rog oder in Kamenez-Podolsk im Herbst 1941 in der Ukraine. Sie führte vor Augen, dass der Raub lebenswichtiger Ressourcen den Hungertod zahlloser Menschen kalkulierte, die weder Uniform trugen noch irgendwelche feindliche Gesinnung hatten, die als Kinder, Frauen und Greise keiner Gegenwehr fähig waren. Die Belagerung Leningrads vom 8. September 1941 bis zum 18. Januar 1944 war keineswegs militärische Notwendigkeit: Möglichst viele der drei Millionen Einwohner der Stadt sollten verhungern. Etwa ein Drittel der Bürger Leningrads gingen im Hungerkrieg gegen ihre Stadt zugrunde.
Kinder und Enkel mussten plötzlich umdenken
Der Schrecken der mit Fotos belegten Tatsachen erzeugte nicht nur bei konservativen Patrioten Abwehr. Die Kinder und Enkel einstiger deutscher Soldaten wollten das Bild der "sauberen Wehrmacht" bewahren. Auch wenn der Krieg verloren, seine Absicht verbrecherisch und die Kriegführung barbarisch gewesen war, bedrohte die mit der Ausstellung intendierte historische Aufklärung zu viele persönliche Schicksale, Entbehrungen und Verluste: Es war schlimm genug, dass der Kreuzzug gegen den Kommunismus, die Hoffnung auf Eroberung von "Lebensraum", der Traum vom Herrenmenschentum gescheitert waren. Jetzt musste auch noch der Vorwurf aus der Welt geschafft werden, der Krieg sei ein Verbrechen, die ihn geführt hatten, seien Verbrecher oder doch Mitwirkende, mindestens Handlanger gewesen.
Im Oktober 1999 triumphierte die Gegenaufklärung und brachte das Unternehmen Wehrmachtsausstellung zu Fall. Wie üblich geschah das mit Vorwürfen en détail (einige Fotos und Bildlegenden waren tatsächlich falsch zugeordnet, was an der Seriosität des Ganzen freilich nichts änderte). Anfang November 1999 wurde die Ausstellung geschlossen. Prominente Historiker prüften ein Jahr lang die Exponate, Texte und Interpretationen und kamen zu dem Schluss, dass der "Vorwurf der Fälschung und Manipulation" gegenstandslos war. Die Experten empfahlen, ein paar sachliche Fehler zu beheben und gelegentlich zu pauschale Argumentation zu bedenken. Doch der Initiator knickte ein, beugte das Haupt, trennte sich von der Ausstellung. Die neu konzipierte, textreiche und wissenschaftlich präzise gestaltete Exposition war makellos, konnte aber an die emotionale Wirkung der inkriminierten Ausstellung nicht anknüpfen.
Aufklärung tut weiter not - nur wie?
Jetzt liegt der Katalog der zweiten Ausstellung von 2001 bis 2004 in dritter Auflage vor. Als kiloschweres Monument der Akribie, hervorragend gestaltet und in allen Details mit Fotos, Faksimiles und Texten authentisch und unanfechtbar. Aber zwanzig Jahre später, begleitet von einem Themenheft der Hauszeitschrift des Hamburger Instituts, das den zweiten Anlauf des Aufklärungswerkes feiert, mutet der Katalog doch eher museal an. Ein Kompendium für den stabilen Schreibtisch, eine Zierde im Bücherschrank. Der heilende Aufschrei, der die erste Ausstellung begleitete, ist nicht mehr vernehmbar.
Das Thema bleibt aktuell. Angesichts lustvoller Provokation der Rechten, in Würdigung der Vogelschiss-Theorie des AfD-Vordenkers Gauland, der frechen Reden seiner Gefolgschaft und des Beifalls, den sie dafür erntet, tun Erinnerung und Aufklärung weiter not. Im kollektiven Bewusstsein der Deutschen sind Leiden der sowjetischen Bürger und die Schrecken des Krieges in Ost- und Südosteuropa immer noch nicht präsent. Für die Jüngeren mögen die Ereignisse arg weit zurückliegen, für die Angehörigen der mittleren Generation ist die Wahrnehmung vielleicht bestimmt durch die Bilder der unbarmherzigen sowjetischen Besatzungsmacht, die sich durch Raubbau an den Ressourcen der Ostzone zu entschädigen suchte, ihr dann, in Gestalt der DDR, das sowjetische politische, ökonomische und ideologische System aufzwang. Die Kriegsgeneration schwieg oder hatte die schrecklichen Bilder und Erfahrungen aus ihrem Gedächtnis getilgt. Deckerinnerungen an die deutschen Kriegsgefangenen, die in der Sowjetunion zurückgehalten wurden, an das Schicksal der Flüchtlinge und der Vertriebenen, halfen die deutschen Verbrechen zu verdrängen.
Statt der Musealisierung braucht es jetzt neue Formate des Erinnerns.
Wolfgang Benz ist Zeithistoriker, von 1990 bis 2011 leitete er das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.