Es gibt Fotos, die niemanden kalt lassen. Ein kurzer Blick reicht, schon regt sich etwas in einem. Trauer, Mitgefühl, Entsetzen. Oder Wut. Es sind oft nicht die perfekt inszenierten Bilder, in denen jedes Detail stimmt. Es sind die eher zufällig wirkenden Fotos, die mit dem Wissen um die Entstehung die Seele berühren: Das Bild einer 2015 an der Mittelmeerküste angespülten Jungenleiche, das das Leid vieler Flüchtenden schonungslos veranschaulichte; das vor einem Napalm-Angriff der Amerikaner flüchtende Mädchen in Vietnam, dessen Abbildung die Grausamkeit des Krieges schmerzhaft vor Augen führte. Bilder, die bleiben.
Bei der Präsentation einer neuen Forschungsinitiative zu NS-Deportationen hält Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) am Donnerstag ein solches Bild in den Händen, schwarz-weiß. Es zeigt zwei Mädchen, eingepackt in dicke Wollmäntel mit Schal und Mütze. Sie sind jung, verletzlich. Das größere Mädchen schaut ernst in die Kamera, als ahnte es bereits, was passieren würde. Das andere wirkt munter, lächelt unschuldig. Auf ihrem Mantel ist ein Stern aus Stoff aufgenäht mit der Aufschrift: "Jude". Das Foto entstand kurz vor der ersten Deportation Münchner Jüdinnen und Juden am 20. November 1941. Fast 1000 Menschen wurden an diesem Tag ins litauische Kaunas verschleppt, wo die Nazis später ein Konzentrationslager errichteten. Viele von ihnen wurden misshandelt und starben. Es war der Anfang eines beispiellosen Auslöschungsversuches, der mit der sogenannten Wannsee-Konferenz der NS-Bürokratie vor genau 80 Jahren systematisiert und beschleunigt wurde.
"Tief bedrückend" seien das Foto und das damit verbundene Leid, sagte Reiter am Donnerstag, dem 80. Jahrestag der Wannsee-Konferenz. Über das Schicksal der beiden Mädchen auf dem Bild ist fast nichts bekannt, keine Namen, kein Alter. Nicht einmal, ob sie den Nazi-Terror überlebten - aber das muss nicht so bleiben. Gemeinsam mit Historikern sowie der Holocaust-Überlebenden und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, stellte der OB die Initiative "#LastSeen" vor. Sie will bis Ende des Jahres bundesweit nach Foto- und Filmaufnahmen von NS-Deportationen suchen und den Menschen vor und hinter der Kamera näher kommen. Geleitet wird das Projekt von den Arolsen Archives, das nach eigenen Angaben weltweit größte Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus.
Nur 550 Aufnahmen von Deportationen sind bislang öffentlich bekannt
"Viele Bilder liegen noch unentdeckt in Archiven, Kellern oder Dachböden", sagt Henning Borggräfe, Leiter der Forschungs- und Bildungsabteilung bei Arolsen. "Jeder und jede kann mitmachen und sich bei uns melden." Bislang seien nur 550 Aufnahmen von Deportationen aus 50 Orten öffentlich bekannt, doch das Projektteam ist überzeugt, dass es noch viel mehr Aufnahmen geben muss. Aufnahmen könnten sich zum Beispiel in alten Zeitungen, privaten Sammlungen oder im Nachlass von Betroffenen und Beteiligten finden. Das Foto der beiden Mädchen aus München stammt aus einer 14-teiligen Fotoserie, die sich im Besitz des Stadtarchivs befinden. Ziel der Initiative ist, online einen frei zugänglichen Bildatlas mit allen bekannten Deportationsbildern zu starten und das mit einem Bildungsangebot zu verknüpfen.
Das könnte auch den Umgang mit dem Material verändern, hofft Borggräfe. Denn bislang fehle es bei der Verbreitung solcher Fotos in Medien oder dem Internet oft an historischer Einordnung. "Häufig wird mit den Bildern auch der Blick der Täter auf die Opfer verbreitet", sagt er. Die Transporte in Konzentrations- oder Vernichtungslager seien meist von Angehörigen des NS-Staates fotografiert worden, von Polizisten oder Parteifunktionären. "Das war eine Art Leistungsschau, die man zum Teil mit Stolz dokumentierte." Allerdings gebe es auch immer wieder Fotos von Zuschauern, die am Straßenrand oder Bahnhof standen, wenn die Nazis ihre Opfer zusammentrieben und in Züge oder Lastwagen zwangen. Was zeigt, dass die Aktionen oft öffentlich und für jeden sichtbar stattfanden.
Vielleicht, so hofft das Projektteam, gibt es sogar Fotos von Betroffenen oder deren Familien, die kurz vor oder bei der Deportation entstanden sind. Oder Hinweise zur Identifizierung abgebildeter Menschen, zu deren Biografien, Persönlichkeiten, Interessen. Dadurch könne eine angemessene "Gegenerzählung" zustande kommen, sagt Borggräfe, die die "Täterperspektive aufbricht".
Um die Suche zu bewerben, tourt in diesem Jahr ein historischer Mercedes-Lastwagen durch Deutschland, auf dessen Ladefläche eine kleine Ausstellung mit Bildern der Deportationen zu sehen ist - der Lkw ist nie für Deportationen eingesetzt worden. Von Freitag bis Sonntag macht er Halt am Rindermarkt, am Montag und Dienstag steht er am Sankt-Jakobs-Platz. Dann geht es weiter nach Regensburg. Mit etwas Glück ist die Sammlung bei der Abfahrt schon um einige Fotos reicher. Es wäre ein wertvoller Beitrag zur Erinnerung an die Opfer der NS-Zeit, schließlich sind "die meisten Männer, Frauen und Kinder auf diesen Fotos das letzte Mal zu sehen", sagt Borggräfe.