Es gab drängende Fragen zu klären, als Ann Pickard sich im September 2008 mit US-Diplomaten in der nigerianischen Hauptstadt Abuja traf. Sie habe erfahren, sagte die Topmanagerin des Energieriesen Shell beunruhigt, dass der russische Konkurrent Gazprom einen Vertrag mit der nigerianischen Regierung abgeschlossen habe.
Die Abmachung beinhalte unter anderem die Zusage, dass Gazprom etwa ein Zehntel der gesamten Gasreserven Nigerias ausbeuten dürfe. Dieser Deal könne nur umgesetzt werden, so Pickard weiter, wenn die Regierung des westafrikanischen Landes anderen Energieunternehmen - darunter Shell - Gas-Konzessionen abnehme. Um ihr Geschäft zu verteidigen, bat Pickard die Diplomaten um "potentiell sensible Informationen" über den Rivalen Gazprom.
So soll es zumindest laut der britischen Zeitung The Guardian gewesen sein, die wiederum aus Wikileaks-Dokumenten zitiert, zu denen sie vor ihrer Veröffentlichung Zugang erhielt.
Geheiminformationen von Shell
Demnach kabelte die amerikanische Botschaft in Abuja mehrfach Berichte nach Washington, aus denen hervorgeht, wie tief Shell die nigerianische Regierung infiltriert hat. Nigeria ist der größte Erdölexporteur Afrikas und liefert acht Prozent aller amerikanischen Öl-Importe. Kritiker werfen Shell seit Jahren vor, für schwere Umweltzerstörungen im Nigerdelta verantwortlich zu sein.
Bei einem weiteren Treffen im Herbst 2009 soll Pickard US-Vertretern neue "Geheiminformationen" präsentiert haben: Diesmal habe die nigerianische Regierung chinesische Firmen aufgefordert, sich um Konzessionen zur Ölförderung zu bemühen. Wieder war Pickard beunruhigt. Zwar habe die nigerianische Regierung dementiert, doch Shell wisse es besser.
Ministerien infiltriert
Das Unternehmen habe schon vor Jahren Mitarbeiter in allen wichtigen Ministerien installiert. So sei Shell jederzeit über alle politischen Vorhaben und Entscheidungen in dem ölreichen Land informiert. "Sie wissen alles", sollen die Diplomaten berichtet haben. Managerin Pickard soll laut Guardian vor den Diplomaten sogar damit geprahlt haben, dass die nigerianische Regierung offenbar vergesse habe, wie tief sie von Shell infiltriert sei.
Die Informationen von Shell waren offenbar so gut, dass das Unternehmen in einen Tauschhandel mit den US-Vertretern eintreten konnte. Der Guardian berichtet, dass Pickard bei einem weiteren Treffen die Namen von Politikern nannte, die für Unruhen in Lagos verantwortlich sein sollten.
Im Gegenzug soll sie Nachhilfeunterricht in Militärtechnik verlangt haben: Laut Shell-Informationen hätten Rebellen bis zu drei Boden-Luft-Raketen ins Nigerdelta geschafft, wo Shell seine Ölförderung betreibt. "Sie wollte wissen, wie lange so sensible Waffensysteme unter den rauen Umweltbedingungen im Delta wohl überleben würden", zitiert der Guardian aus den Wikileaks-Dokumenten.
Rebellengruppen im Nigerdelta gelingt es immer wieder, mit Sabotageakten und Geiselnahmen Shells Geschäften schweren Schaden zuzufügen.
Furcht vor Informationslecks
Doch die Auskunftsfreude des Energieriesen hatte auch ihre Grenzen. Mehrfach soll Shell-Managerin Pickard US-Diplomaten Auskünfte verweigert haben. Ihre aus heutiger Sicht prophetische Begründung laut Guardian: Die Regierung der USA sei anfällig für Informationslecks. "Sie fürchtet wahrscheinlich, dass schlechte Nachrichten über Shells Tätigkeit in Nigeria an die Öffentlichkeit gelangen", kabelten die Diplomaten nach Washington.