Werkstatt Demokratie:Warum es zu viel Demokratie geben kann

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(Foto: Florian Gaertner/imago images; Bearbeitung SZ)

Corona-Demos, Trumps Brutalität oder Cancel Culture: Demokratie gerät unter Druck. Politologe Philip Manow erklärt, was die liberale Mitte damit zu tun hat, die Politik nur als Teil der Selbstverwirklichung versteht.

Interview von Sebastian Gierke

SZ: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder von Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen sehen? Leute mit ganz verschiedenen politischen Meinungen kommen da zusammen.

Philip Manow: Zunächst denke ich: Das ist Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Also alles in Ordnung. Ich finde es auch nicht so extrem überraschend, dass sich Protest artikuliert in Anbetracht der Tatsache, dass die Corona-Politik der Regierung ja bestimmte Berufe oder Wirtschaftszweige in existenzielle Bedrohung gebracht hat. Schließlich denke ich, dass man an den Protesten sehen kann, dass relevante Teile des politischen Diskurses nicht mehr im traditionellen Sinne "öffentlich" sind. Corona-Demonstranten klicken die KenFM-Webseite, aber lesen eher nicht die SZ.

"Eine Zumutung für die Demokratie" - so hat die Kanzlerin im Mai genannt, was im Kampf gegen die Corona-Pandemie beschlossen worden war.

Einiges war tatsächlich grenzwertig. Anekdotisch gesprochen: Bei uns in der Gegend fingen Landräte an, Wanderwege eigenmächtig abzusperren, weil sie meinten, dass man am Wochenende nicht mehr durch den Wald laufen dürfe. Auf was für einer Grundlage wird so etwas entschieden? Aber insgesamt zeigen erste Studien, dass zwar Autokratien Covid politisch ausgenutzt haben, nicht aber Demokratien.

Philip Manow, 1963 in Hamburg geboren, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen. Zuletzt ist von ihm das Buch "(Ent-)Demokratisierung der Demokratie" bei Suhrkamp erschienen. (Foto: Markus Zielke)

Die Orbán-Regierung in Ungarn hat die Maßnahmen weder befristet noch vom Parlament überprüfen lassen.

Ich fand den Ausdruck "Corona-Diktatur" im ungarischen Fall überschießend. Dass die Maßnahmen, die übrigens wieder parlamentarisch aufgehoben wurden, ohne zeitliche Begrenzung eingeführt wurden, hat für großen Aufruhr gesorgt. Aber Fidesz und Orbán haben eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament, deswegen hätte jede befristete Maßnahme sowieso immer wieder verlängert werden können. Die eigentlich interessante Frage lautet doch: Wenn es ihm wirklich um autoritäre Machtergreifung ging, warum hat sich Orbán dann nicht geschickter angestellt?

Ihre Erklärung?

Populisten spielen mit der Unsicherheit der Demokratie. Die Empörung kommt dann wie bestellt.

So macht das nicht nur Orbán, so machen das Trump in den USA, Erdoğan in der Türkei, Modi in Indien ... Die Liste wird immer länger.

Ja, und deshalb heißt es gerade überall: Die Demokratie ist in der Krise. Dabei war man sich vor nicht allzu langer Zeit noch völlig einig, dass diese Herrschaftsform alternativlos geworden ist. Ihr weltweiter Siegeszug, so die Diagnose nach 1990, sei nun endgültig vollzogen. Insofern sind wir mit der paradoxen Situation von einerseits Alternativlosigkeit und andererseits Krise der Demokratie konfrontiert. Diese gilt es zu analysieren.

Tun wir das!

Die Demokratie hat sich sowohl als Legitimationsprinzip als auch als institutionelles Arrangement in einem Ausmaß durchgesetzt, wie das historisch noch nie der Fall war, wenn wir die Ausweitung des Wahlrechts, die parlamentarische Verantwortlichkeit von Regierungen oder den Rückzug nichtdemokratisch legitimierter Akteure - Militärräte, Monarchen und so weiter - betrachten. Was legitime Herrschaft angeht, gibt es ohnehin kein Konkurrenzmodell mehr. Aber auch die politische Praxis hat sich grundlegend demokratisiert.

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Was meinen Sie damit genau?

Die Formen politischen Kollektivhandelns und der politischen Kommunikation haben sich radikal demokratisiert. Sie können heute innerhalb von wenigen Wochen mit ganz geringem Organisationsaufwand ein ganzes Land politisch mobilisieren. Was nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd durch einen US-Polizisten passierte, ist dafür ein Beispiel, die Gelbwesten in Frankreich sind ein anderes. Oder etwas weniger spektakulär: Ende vergangenen Jahres entstand aus der Facebook-Gruppe einer niedersächsischen Landwirtin innerhalb von drei Wochen eine Protestbewegung, die in allen großen deutschen Städten den Verkehr lahmlegte. Heute kann jeder mit jeder Meinung in den politischen Kommunikationsraum eintreten - dafür braucht es nur einen Internetanschluss. Die Demokratie ist so demokratisch, wie sie es noch nie zuvor gewesen ist. Und auch so hegemonial, wie sie noch nie zuvor gewesen ist.

Und das ist ein Problem? Die Demokratisierung von Demokratie? Kann es ein Zuviel an Demokratie geben?

Ja, kann es. Wir erleben viele rohe, demokratisch-politische Impulse, viel Energie, viel Intensität, die aber keine Form mehr findet. Was der Demokratie Form gegeben hat in den letzten 40, 50 Jahren war die repräsentative und parlamentarische Demokratie. Und es hat davor ein ganzes Jahrhundert gebraucht, bis sich herauszukristallisieren begann, dass die politische Partei der Akteur ist, der das Repräsentationsprinzip in Nationalstaaten zum Funktionieren bringen kann. Dieser Akteur ist in der Krise. Das ist aber zunächst eine Krise der Repräsentation und nicht eine der Demokratie.

Dann einen Schritt zurück: Was ist denn die Funktion von Parteien in der Demokratie?

Die ureigenste Funktion von Parteien ist es, Interessen, Präferenzen, Leidenschaften oder Meinungen zu aggregieren. Und dann in kollektivverbindliche Entscheidungen zu überführen. Sie sorgen also für die zentrale Verbindung der elektoralen, legislativen und exekutiven Arena.

Kollektive Verbindlichkeit, daran mangelt es gerade. Viele Menschen fühlen sich allein und machtlos, behaupten, niemand würde ihnen zuhören. Daraus entsteht Frust, Streit und Polarisierung. Populisten gelingt es, das auszunutzen.

Die drastische Zunahme von Kommunikationsmöglichkeiten ist dafür ein wichtiger Grund. Populismus ist ja kein neues Phänomen. Und interessanterweise ist sein Erstarken historisch immer mit einer Medienrevolution zusammengefallen. Das Aufkommen des Peronismus der 1940er Jahre ist ohne Radio nicht vorzustellen. Es gibt einen systematischen Zusammenhang zwischen neuen medialen Möglichkeiten, politischer Kommunikation und dem Aufstieg von Außenseitern, die die Chance ergreifen und so in zuvor geschlossene Zirkel einbrechen. Beppe Grillo in Italien, Geert Wilders in den Niederlanden, Donald Trump in den USA und noch einige mehr sind nicht vorstellbar, ohne die neuen Medien und die Form der politischen Mobilisierung, die diese ermöglichen. Das ist die Angebotsseite. Hinzu kommt natürlich die Nachfrageseite - also die Unruhe und die Unzufriedenheit, vor allem gespeist aus den großen Globalisierungskrisen der jüngsten Vergangenheit, Finanzkrise, Flüchtlingskrise, jetzt vielleicht Corona.

Dieses Interview gehört zur Werkstatt Demokratie, einem Diskursprojekt von SZ , Nemetschek-Stiftung und Akadamie für Politische Bildung . Im Rahmen des Projekts können Sie hier ein Thema wählen, das die Redaktion recherchiert und dann mit Ihnen diskutiert. Stimmen Sie jetzt ab:

Bedeutet das, dass es keine Parteien mehr braucht? Weil sie für die Organisation von kollektivem Handeln nicht mehr nötig sind?

Zumindest braucht man sie in der uns bekannten Form als Mitgliederpartei nicht mehr. Schauen Sie nach Frankreich, auf Macron: Wenn man keine Partei hat, dann gründet man halt eine - und innerhalb von zehn Monaten gewinnt man die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Movimento Cinque Stelle ist eigentlich eine Webseite. Geert Wilders führt eine Partei, die genau ein Mitglied hat: ihn selbst; Ukip wurde als ein Unternehmen mit vier Anteilseignern gegründet.

Die sind aber auch alle - mehr oder weniger - in der Krise gerade.

Ja, es kommt immer öfter zu kurzfristigen, spasmischen Aufwallungen. Einige Bewegungen lassen sich in eine Organisation überführen, aber meist eben nur kurz. Es wird alles sehr fluide, ephemer, instabil. La République en Marche, Macrons Partei, zerfällt bereits.

Populisten versprechen, dass sie ihrem Land verlorene politische Souveränität wieder zurückgeben können.

Ich denke, dass ein wichtiger Teil der Krisendiagnose lautet: Demokratisierung der Partizipation geht mit der Entdemokratisierung von wichtigen Entscheidungsbereichen einher. Vieles wird dem Rechtssystem überantwortet. Die Integrationsdynamik des europäischen Projekts kommt beinahe ausschließlich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Alles wird auf einklagbare Rechte heruntergeschraubt, damit aber auch der politischen Bestimmung entzogen. Ich interpretiere das als Überschießen des liberalen Projekts, ausgelöst durch den Triumphalismus nach 1990. Damals wurde behauptet, dass der politische und der wirtschaftliche Liberalismus endgültig gesiegt hätten. Tatsächlich ist der ökonomische und rechtliche Liberalismus, vulgo Kapitalismus plus subjektiver Rechte, auf Kosten des politischen Liberalismus, vulgo Demokratie, vorangeschritten. Heute erleben wir den Protest gegen diese Entwicklung.

Aber gerade hat doch die Pandemie gezeigt, dass Nationalstaaten wie Deutschland in der Lage sind, klare Entscheidungen zu treffen und sich eben nicht alles von überstaatlichen Organisationen diktieren zu lassen.

Populismus
:"Die liberale Demokratie zerfällt gerade"

Und zwar auch in Deutschland, glaubt Yascha Mounk. Der Harvard-Politikwissenschaftler macht sich gewaltige Sorgen, sagt aber: Noch ist das System reformierbar. Zum Beispiel durch einen neuen Nationalismus.

Interview von Sebastian Gierke

Dass sich die Nationalstaaten überlebt hätten, das ist eine Diagnose aus den 1990ern, die in Deutschland ganz besonders in Mode war. Sie stimmte damals nicht, sie stimmt heute nicht. Der erste Reflex in der Krise war ein nationalstaatlicher. Wo hätten die legitimen Ressourcen denn sonst auch herkommen sollen? Können Sie sich eine Europäische Kommission vorstellen, die bestimmt, dass in Deutschland sechs Wochen lang niemand mehr aus dem Haus gehen darf - eine Kommission, die man ja noch nicht einmal abwählen kann, wenn man mit ihr unzufrieden ist?

Sie sagen, die Populisten stellen vieles in Frage, aber nicht die Demokratie. Ist beispielsweise Trump keine Gefahr für die Demokratie? Er droht zumindest indirekt damit, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen.

Ja - er spielt ganz offen mit dem in der Demokratie Undenkbaren. Ich lehne mich jetzt einmal weit aus dem Fenster: Die amerikanische Demokratie wird Trump überleben. Aber es gibt gute Gründe dafür zu sagen: Eine illiberale Demokratie ist gar keine Demokratie.

Sie sehen das anders?

Wir sprechen ja von verschiedenen Teilen. Demokratie setzt sich, vereinfacht gesagt, aus kollektiver Volkssouveränität und individuellen Freiheitsrechten zusammen. Das sind zwei Prinzipien, die nicht automatisch ausbalanciert sind. Das eine Prinzip, der individuelle Liberalismus, ist zunehmend ausgeweitet, das andere, die kollektive Selbstbestimmung, zunehmend beschränkt worden. Die aktuellen Konflikte entstehen genau an dieser Schnittstelle. Und die Populisten muss man nicht nur als Problem der Demokratie verstehen, sondern auch als Anzeichen dafür, dass sie ein Problem hat.

Aber wie geht man dann mit Populisten und deren Anhängern um? Ignorieren? Mit ihnen diskutieren?

Grenzen des Diskurses werden vom Strafrecht gezogen. Wenn man da Veränderungen will, muss man die politischen Mehrheiten suchen, die das ermöglichen. Zu sagen: "Das ist alles Saatgut eines neuen Faschismus", halte ich für fatal. Aber das passiert gerade inflationär.

Die Grenzziehung ist der entscheidende Punkt. Ab wann sollen die Sicherheitsorgane einschreiten? Die Taktik der Populisten ist es, die Grenzen des Sagbaren auszuweiten.

Souverän ist, wer über Diskursgrenzen entscheidet. Das stimmt. Der Streit darüber ist aber eben nur ein weiterer politischer Streit. Was dem einen das Unsagbare, ist dem anderen die cancel culture. "Hass und Hetze" findet man ja sowieso immer nur beim politischen Gegner. In Hamburg und Berlin gab es diese skurrilen Situationen, dass "Merkel muss weg"-Demonstranten und die Gegendemonstranten von der Antifa beide riefen: Nazis raus.

Aber es braucht doch Grenzen. Sonst nimmt das eine Dynamik an, die nicht mehr aufzuhalten ist. Was heute nicht geht, ist morgen Mainstream.

Wir haben ja Grenzen, rechtliche. Die sind aus - wie ich finde - guten Gründen, in der Vergangenheit vom Bundesverfassungsgericht sehr weit interpretiert worden. Siehe etwa das "Soldaten sind Mörder"-Urteil. Worauf ich hinweise möchte: Es gibt performative Widersprüche. Die Demokratie basiert auf Gleichheitsvorstellungen. Das erlaubt es aber normalerweise einer Seite nicht, zu definieren, wer dazugehört und wer nicht: Ihr Undemokraten! Anders formuliert: Natürlich kann man das machen, aber es ist dann doch nur das Predigen zu den bereits Bekehrten.

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Was kann man also tun?

Aus meiner Sicht lautet ein wichtiger Punkt: Wo verhandelt eine Gesellschaft politisch über sich selbst? Wenn der Staat letztendlich gar nicht mehr der Ort ist, an dem das stattfindet, sondern Straßburg, oder ein Schiedsgericht der Welthandelsorganisation WTO, erscheint mir das als Problem. Ein parlamentarisch nationaler Handlungsrahmen, in dem die relevanten Dinge einer Gesellschaft verhandelt werden, ist wichtig. Nicht der Staat als eine abstrakte oder administrative Einheit, sondern als politische Arena. Und das Zweite - ich weiß nicht, ob wir das noch mal erleben: Die Parteien müssten die Repräsentationslücken schließen. Bestimmte Milieus sind nicht mehr repräsentiert. Die SPD hat früher mal Arbeiter mobilisiert, heute nur noch den öffentlichen Dienst.

Für viele geht es heute nicht mehr um Milieufragen, sondern um Identitätsfragen.

Das ist etwas, das mich momentan beschäftigt. Ich vermute, dass die Prominenz von Identitätsfragen nichts Unvermeidliches an sich hat, sondern zum liberalistischen Überschuss gehört. Wenn man keine Kollektivprojekte mehr anbieten kann oder will, dann ist das die Rückfalloption. Politik als kollektive Selbstbestimmung hört dann auf, stattdessen wird sie Teil individueller Lebensentwürfe und subjektiver Rechte.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Na ja, heute wollen sich viele ihre Gesprächspartner nach den gleichen Kriterien aussuchen, nach denen sie ihren Fair-Trade-Kaffee aussuchen. Die wollen sich nicht mehr irritieren lassen. Das ist ein Projekt der liberalen Mitte, die Politik nur noch als Teil individueller Selbstverwirklichung verstehen kann - so wie eine offene Küche. All das, was wir im Moment sehen, ist eigentlich apolitisch.

Das sagen Sie mit Blick auf die liberal-individualistische Seite. Was ist mit Identitätspolitik? Also mit dem, was Gruppen Marginalisierter machen, die sich explizit als politisch links und progressiv verstehen.

Das würde ich in denselben Kontext stellen. In den USA muss man die "Black Lives Matter"-Bewegung wohl so verstehen, dass das Kollektivversprechen, das man den Afroamerikanern angeboten hatte, seit nunmehr über 200 Jahre eine unverschämte Lüge war - und das auch jeder wusste.

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