Verschwörungstheorien:Die Allianz des Unsinns

Lesezeit: 2 Min.

Eine Frau bei einer "Hygiene-Demo" am 1. Mai in Berlin. (Foto: AFP)

Thesen, wie sie Teilnehmer der "Hygiene-Demos" von sich geben, offenbaren, in welcher Krise demokratische Gesellschaften stecken. Und Promis wie Til Schweiger klatschen Beifall.

Von Alex Rühle

Am Anfang waren sie nur ein paar Dutzend, mittlerweile kommen jeden Samstag viele Hundert Teilnehmer und teilnehmende Beobachter zu den Berliner "Hygiene-Demos". Aber wer kommt an diesen Samstagen zusammen? Und auf wen berufen sie sich?

Anselm Lenz ist ehemaliger taz-Mitarbeiter, der jetzt seinen eigenen Worten nach "die größte Wochenzeitung Deutschlands" herausgibt, eine Postille namens "Demokratischer Widerstand", die er auf den Demos kostenlos verteilt. Lenz warnt vor einer "maßlosen Faschisierung des zivilen Lebens". Er insinuiert, die Corona-Krise diene dazu, vom bevorstehenden Crash des Finanzkapitalismus abzulenken und solle einen "Neustart des Kapitalismus auf neonationalistischer Basis" ermöglichen.

Dann ist da der HNO-Arzt Bodo Schiffmann, Leiter der "Schwindelambulanz Sinsheim", der in seinen Videos blühenden Unsinn erzählt, etwa: in Italien gebe es gar keine echte Corona-Krise, Japan habe alles laufen lassen und sei damit erfolgreich, in Frankreich werde bei über 80-Jährigen "aktive Sterbehilfe" angewandt und keiner wisse, wie gefährlich Corona sei, weil die Medien im Verbund mit dem Virologen Drosten nur "Massenpanik" verbreiteten.

Das wilde Geraune ist ein deutlicher Indikator für die Fragmentierung der Öffentlichkeit

Nicht zu vergessen Ken Jebsen, der behauptet, Bill und Melinda Gates hätten sich "über die WHO in die Weltgemeinschaft eingehackt" und verfügten nun über "mehr Macht als seinerzeit Roosevelt, Churchill, Hitler und Stalin gemeinsam". Seine These: Die Gates hätten die Regierungen gekauft, um via Corona Impfprogramme, von denen sie finanziell profitieren, weltweit durchzusetzen.

Beklatscht und geteilt wird so etwas von Reichsbürgern, Esoterikern und Promis wie Til Schweiger oder, neuester Fall, dem veganen Youtube-Koch und Autor Attila Hildmann, der soeben ankündigte, bewaffnet in den Untergrund zu gehen.

Sie alle kommen aus unterschiedlichen Ecken. Aber sie alle sehen sich als Verteidiger der Freiheit und des Grundgesetzes, alle reden von einem Notstandsregime, die meisten vergleichen die Situation auf die eine oder andere Art mit dem Jahr 1933, dem Faschismus (Lenz) oder warnen vor einem zweiten Auschwitz (Jebsen). Und alle reden von der Gleichschaltung der freien Presse.

Es nützt nichts, dass Ärzte die kruden Thesen widerlegen - sie werden weiterverbreitet

Die Soziologin Zeynep Tufekci von der University of North Carolina at Chapel Hill schrieb über die Corona-Debatte in den USA: "Wir haben es momentan auch mit einer epistemologischen Krise zu tun: Es gibt sehr viel Expertise, aber die Fähigkeit, das Seriöse in all dem Wust zu erkennen, war noch nie so gering wie heute." Einen Beleg für die Richtigkeit dieser These liefert der zitierte Schwindelspezialist Bodo Schiffmann. Obwohl renommierte Ärzte Schiffmanns Thesen widerlegt haben, wird sein Unsinn hunderttausendfach weiterverbreitet. Beflügelt vom Zuspruch gründete Schiffmann "Widerstand 2020", eine Partei, die laut Homepage "Menschlichkeit" und "wahrhaftige Demokratie" anstrebe. Einer der Mitgründer, der Leipziger Anwalt Ralf Ludwig, fordert ein Notstandsparlament aus mündigen Bürgern, das unser demokratisch gewähltes Parlament ablösen soll.

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Der Tübinger Amerikanist Michael Butter hat für sein Buch "Nichts ist, wie es scheint" (Suhrkamp) die Geschichte und Verbreitung gängiger Verschwörungstheorien analysiert. Das wilde Zirkulieren der Verschwörungstheorien in unseren Tagen liest er als Indikator für die radikale Fragmentierung der Öffentlichkeit und damit auch, ähnlich wie Tufekci, für eine tieferliegende Krise demokratischer Gesellschaften. Sein Buch endet mit den Worten: "Wenn Gesellschaften sich nicht mehr darauf verständigen können, was wahr ist, können sie auch die drängenden Probleme des 21. Jahrhunderts nicht meistern."

Die relativen Erfolge in den ersten Wochen der Corona-Maßnahmen sind auch darauf zurückzuführen, dass den Experten geglaubt wurde, soweit ihr Wissen (einigermaßen) gesichert schien. Dieser glückliche epistemologische Moment scheint gerade zu Ende zu gehen.

In einer früheren Version dieses Artikels stand, dass am Rande der Hygiene-Demo vom vergangenen Samstag Mitarbeiter der Heute-Show verprügelt wurden. Das ist falsch. Der Angriff auf die Journalisten fand am Freitag statt.

© SZ vom 05.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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