Ungarn:Missbrauchsskandal bringt Orbán in Bedrängnis

Lesezeit: 3 Min.

Er gerät immer mehr unter Druck: Ministerpräsident Viktor Orbán. (Foto: Marvon Monus/Reuters)

Die Affäre um die Begnadigung eines Mannes, der Druck auf Missbrauchsopfer ausgeübt hatte, zieht in Ungarn immer weitere Kreise. In der Öffentlichkeit wächst die Wut darüber, dass das überhaupt möglich war.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Ministerpräsident Viktor Orbán war in den vergangenen Tagen ungewohnt still, stattdessen schickte er eine Armada von Fidesz-Politikern los, um das Land mit allerlei banalen Nachrichten zu fluten. Das reichte von Bildern eines Treffens von Orbán mit dem chinesischen Minister für öffentliche Sicherheit, von dem selbst der ungarische Ministerpräsident sicher noch einiges lernen kann, über den Beginn eines ungarisch-türkischen Kulturfestivals bis zu einem Handshake des ungarischen Außenministers mit dem Kollegen aus Andorra.

Alles sollte ablenken von dem einzigen Thema, das seine Landsleute derzeit wirklich interessiert: Es ist der Skandal um die Begnadigung des stellvertretenden Direktors eines Kinderheims, Endre K., der Missbrauchsopfer beeinflusst haben soll, nicht gegen seinen Chef auszusagen. Der Mann war im Vorfeld des Papstbesuchs im vergangenen Frühjahr von Staatspräsidentin Katalin Novák begnadigt worden. Die damalige Justizministerin Judit Varga, die später Spitzenkandidatin der Regierungspartei Fidesz für die EU-Wahl wurde, hatte das Gesuch unterschrieben.

Die Fidesz-Partei propagiert christliche Werte - das fliegt ihr nun um die Ohren

Beide mussten vergangene Woche unter massivem Druck aus der eigenen Partei, aber auch der Öffentlichkeit zurücktreten. Fidesz gibt sich als Familienpartei und propagiert christliche Werte; Gnade für einen Mann, der - wenn auch nicht als Täter - in Kindesmissbrauch verwickelt war, ist konträr zu allem, was die Partei und ihr Regierungschef seit Jahren predigen.

Deshalb fliegt, man kann es nicht anders sagen, die Sache Orbán und seinen Leuten um die Ohren. Immer mehr Details werden bekannt, und auch empörte Fidesz-Fans äußern ihre Wut in der Öffentlichkeit, die explizite Kritik an der Partei und an Orbán, zumal aus den eigenen Reihen, schon lange nicht mehr gewohnt ist.

Mittlerweile ist bekannt, dass der frühere Kulturminister Zoltán Balog, mittlerweile Bischof der Ungarischen Reformierten Kirche, offenbar die Initialzündung für das Begnadigungsgesuch von Endre K., gab, mit dem er persönlich bekannt gewesen sein soll. Balog soll der Staatspräsidentin, die unter ihm Staatssekretärin und später Familienministerin gewesen war, nahegelegt haben, das Gesuch zu bewilligen. Seither ist in der Reformierten Kirche Feuer unter dem Dach. Balog musste sich laut dem ungarischen Online-Medium Index einer stundenlangen Befragung unterziehen.

"Orbán raus!", hieß es auf einem Plakat bei einer Demonstration vor dem Präsidentenpalast in Budapest Mitte der Woche. (Foto: Attila Kisbenedek/AFP)

Zuvor hatte sich der Bischof "für ein paar Wochen zurückgezogen, um in der Stille Gottes zu beten und nachzudenken", wie Balog in einem Facebook-Eintrag selbst mitgeteilt hatte. "Die Führer seiner Kirche befahlen ihm, von dort zurückzukehren", so Index. Am Freitagabend dann gab Balog seinen Rücktritt als Präsident der Synode der Ungarischen Reformierten Kirche bekannt. Er sagte in einer Videobotschaft, er habe einen "schweren politischen Fehler" begangen. Der Fall schade dem Ansehen seiner Kirche. Sein Amt als Bischof behielt er zunächst.

Gnade für einen Mann, der Opfer sexuellen Missbrauchs zum Schweigen gebracht haben soll - das ist nicht nur in der evangelischen Kirche heutzutage, zumindest öffentlich, nicht vermittelbar. Auch die katholische Kirche äußerte sich extrem kritisch und betonte eilig, das Gnadengesuch sei zwar zum Zeitpunkt des Papstbesuchs gestellt worden, aber in keiner Weise mit dem Vatikan abgestimmt gewesen. Die Unterstützung seiner Politik durch die großen Kirchen ist integraler Teil von Orbáns Propaganda, während einigen kleineren Glaubensgemeinschaften, die sich vor allem in Sozialprojekten engagieren, per Gesetz die Anerkennung als Kirche versagt wurde.

Der Skandal berührt auch das "System Orbán"

Mindestens ebenso desaströs für Orbán wie die Kritik von Christen ist das ungewöhnliche Interview eines hochrangigen Fidesz-Insiders und Managers, des Ex-Mannes von Judit Varga, auf dem regierungskritischen Kanal Partizán. Das Gespräch, in dem Péter Magyar das "System Orbán", die endemische Korruption und die Wilkür und Selbstbedienung einiger Familien rund um Orbán anprangert, hatte zuletzt mehr als zwei Millionen Aufrufe im Netz, und Magyar legt weiter nach.

Der Skandal, der weiter schwelt, gipfelt, vorläufig, in einer Demonstration am Freitagabend im Budapester Zentrum. Mehr als hundert Prominente sagten ihre Unterstützung zu. Regierungsnahe Medien warnten zuvor mit fetten Schlagzeilen vor "roher Gewalt"; bei Fidesz geht die wohl etwas überspitzte Warnung um, die Proteste auf dem Budapester Heldenplatz dürften nicht zu einem "ungarischen Maidan" werden. Am Freitagabend versammelten sich schließlich Zehntausende dort, mehr als erwartet, um gegen die Regierung zu demonstrieren.

In einer Analyse des Budapester Thinktanks Political Capital ist bereits die Rede davon, dass der Begnadigungsskandal die "Fundamente des Regimes unterminieren" könnte. Der Skandal betreffe die höchsten Machtzirkel im Land, heißt es in einem Report vom 12. Februar. Zwar werde er wohl nicht dazu führen, dass sich eingefleischte Unterstützer von dem nationalkonservativen Politiker Orbán abwendeten, aber die Causa berge das größte Risiko für ihn, seit er 2010 an die Macht gekommen sei.

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Dass der Ex-Mann der Justizministerin, Péter Magyar, in seinem aufsehenerregenden Interview am vergangenen Sonntag gesagt hatte, die wirklich Schuldigen seien nicht jene, die hätten zurücktreten müssen, wurde öffentlich als Fingerzeig auf einen Clan gelesen, der andere opfere, um sich selbst zu schützen.

Der Thinktank Political Capital erklärt die Begnadigung eines Mannes, der mit Kindesmissbrauch in Verbindung gebracht wird, daher auch als "Fehler in einem System, das Checks und Balances eliminiert hat und in dem Befehle ausgeführt" würden, ohne sie zu hinterfragen. Seit Langem das erste Mal seien Fidesz und Viktor Orbán nun ernsthaft "in der Defensive".

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