Das Politische Buch:Die Wunden der Zöglinge

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Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau: "Ein richtiges Zuchthaus aus der Kaiserzeit - letzter Umbau während der Nazizeit", so beschreibt es ein ehemaliger Insasse. (Foto: Peter Endig/dpa)

Grit und Niklas Poppe haben ergreifende Berichte zusammengetragen von Menschen, die als Kinder in Heimen erniedrigt, ausgenutzt und missbraucht wurden. Die Gesellschaft hat lange weggeschaut. Zu lange.

Von Viktoria Großmann

Um eine Gesellschaft zu verstehen, hilft es oft, sich anzusehen, wie sie mit ihren Kindern umgeht. Wie ernst werden Kindersorgen genommen, wie hoch ihre Rechte eingeschätzt? In der Pandemie setzte sich bei Eltern die Ansicht durch: auf jeden Fall zu gering. Im Grundgesetz stehen die Kinderrechte noch immer nicht. Es kann der Eindruck entstehen, als sei alles, was Kindern geschieht, letztlich nicht so schlimm - wächst sich raus. Dass das nicht so ist, zeigt der Kampf vieler Erwachsener um Anerkennung von Unrecht, das sie als Kind erlitten haben.

Es sind erst wenige Jahre, seit denen in der Öffentlichkeit über systematische Misshandlungen in Heimen, über Missbrauch in der Kirche oder in Vereinen gesprochen wird. Opferverbände gründen sich, Kommissionen werden eingesetzt, Beauftragte ernannt, Schadenersatzzahlungen geleistet - Schadenersatz für eine verlorene Kindheit oder Jugend. Aktuell am meisten Aufmerksamkeit erfahren die Missbrauchsfälle in der Kirche.

Nicht nur die Heime in der DDR stehen im Fokus

Doch was in kirchlichen Einrichtungen, im Ministrantendienst oder in Klosterschulen geschah, ist ja nur ein Teil des gesellschaftlichen Versagens. Einen neuen Debattenbeitrag liefern Grit und Niklas Poppe mit ihrem Buch "Die Weggesperrten", das sich anders als Grit Poppes Jugendromane "Weggesperrt" und "Abgehauen" mit den Erziehungsheimen in der DDR rein dokumentarisch befasst. Eine Dokumentation mit Wucht, mehr als 20 Erwachsene schildern ihren Weg durch Kinderheime, Jugendheime, Umerziehungslager, Jugendwerkhöfe. Einen besonders tiefen Eindruck aber hinterlässt das Buch dadurch, dass es sich nicht allein mit der "Umerziehung in der DDR" befasst, wie es der Untertitel vermuten lässt. Mutter und Sohn haben ihrer Arbeit einen größeren Rahmen gegeben, indem sie Berichte aus der NS-Zeit, der noch jungen Bundesrepublik, aus der Schweiz und dem gegenwärtigen Deutschland beigefügt haben.

Das relativiert das Unrecht, das in DDR-Heimen geschah, keineswegs. Noch mindert es die Anerkennung des Leids von Jugendlichen in anderen Systemen. Im Gegenteil. Sichtbar wird eine erschreckende Kontinuität im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Der völlige Zusammenbruch eines Staates führt eben längst nicht zu einer Reform von Erziehungsmethoden. Schon deshalb, weil sowohl Gebäude wie auch Personal oft lange die Zeiten überdauern. Im Bildungssystem betraf das Millionen. Ostdeutsche Schulkinder mussten sich schließlich bis weit in die Neunziger im Sportunterricht das paramilitärische Gebrüll ihrer im Sozialismus ausgebildeten Lehrer anhören. Wie eben auch im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst noch Altnazis Geschichte unterrichteten oder im Osten nach der Wende die Lehrer für Staatsbürgerkunde auf Gesellschaftskunde oder Ethik umschulten.

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Weitaus schlimmer traf es jedoch Kinder und Jugendliche in der Fürsorge. Otto Hinrich Behnck wurde 1970 im Landesfürsorgeheim Glückstadt in Westdeutschland eingesperrt. Dass er lange Haare hatte, Musik von den Doors hörte und oft mit seinen Eltern stritt, reichte offenbar aus, um den 19-Jährigen in ein Erziehungsheim zu schicken. Die Volljährigkeit war damals erst mit 21 erreicht. Das Gebäude, so beschreibt er, war in der Nazizeit als Konzentrations- und Arbeitserziehungslager genutzt worden, "auch einige Erzieher hatten bereits als Hilfspolizisten im damaligen KZ Glückstadt gearbeitet". Renzo-Rafael Martinez kam mehr als 30 Jahre später, Anfang der 2000er, in ein Heim der Haasenburg GmbH in Brandenburg. Einige Erzieher, berichtet er, hätten "ihre DDR-Methoden wohl aus dem Jugendwerkhof" mitgebracht. Außer der politischen Verfolgung in der DDR zeigt sich in allen politischen Systemen auch eine Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft.

Ob in der DDR oder in der jungen Bundesrepublik, nachdem sie die Schule abgeschlossen hatten, leisteten die Jugendlichen in den Heimen Zwangsarbeit. Manche Kinder wurden ihren Familien entrissen, andere von überforderten Eltern in Obhut gegeben. Zwei Betroffene erinnern sich im Buch an "gute" Heime in der DDR - nur um dann den Wechsel in andere Einrichtungen als umso gravierender zu empfinden. Die Autoren wagen schließlich den Blick über die Grenze, zum System der Verdingkinder in der Schweiz: Waisen oder Kinder, die ihren Müttern weggenommen und in Pflegefamilien gesteckt wurden, wo sie etwa auf Bauernhöfen hart arbeiten mussten, geschlagen oder missbraucht wurden.

Auch als Erwachsene mussten viele weiterkämpfen

Fast allen Berichten gemeinsam ist das Staunen der Betroffenen darüber, dass ihnen das angetan wurde. Die Einweisungen in die Heime kamen oft aus dem Nichts, blieben ihnen unerklärlich und verletzten ihr Gerechtigkeitsgefühl zutiefst. Die detaillierten Beschreibungen gehen nahe, sind oft sehr reflektiert, lassen viel über die unterschiedlichen Persönlichkeiten erahnen. Erwachsene neigen oft dazu, Kinder nicht ernst zu nehmen. Für die Kinder und Jugendlichen, die diese Heimerziehung erlebt haben, setzte sich das fort. Sie mussten weiter kämpfen für das misshandelte Kind in ihnen, erfuhren dabei Ablehnung und Desinteresse. Es dauerte oft Jahrzehnte, bis vielleicht eine Rehabilitierung erfolgte.

Das große Verdienst der Autoren ist es, deutlich zu machen, dass es sich nicht um Einzelschicksale handelt. Das Buch macht Erziehungsmuster und Erziehungsziele sichtbar, die längst nicht nur Heimkinder betreffen. Das zu erkennen und aufzuarbeiten, ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft.

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