Lange Zeit hat sich der Bestsellerautor Thomas Frank, 51, am konservativen Amerika abgearbeitet. In "What's the matter with Kansas" untersuchte er, wieso die weiße Unterschicht die Republikaner wählt, obwohl diese den Staat zusammenkürzen. "Arme Milliardäre" beschrieb, wie die Konservativen die Finanzkrise zu ihrem Vorteil umdeuteten. In "Listen, Liberal" (Metropolitan Books) knöpft er sich nun die Demokraten vor und kritisiert deren Bildungsbesessenheit. Diese Polemik ist nicht ohne Ironie: Das Interview mit dem promovierten Historiker findet in seinem Haus in Bethesda statt - jeder neunte Bewohner dieses Washingtoner Vororts besitzt einen Doktortitel.
SZ: In "Listen, Liberal" kritisieren Sie die Demokraten scharf: Die Partei von Obama und den Clintons habe Amerikas Arbeiter verraten.
Thomas Frank: Nach dem Vietnam-Krieg reformierten sich die Demokraten, Gewerkschaftsfunktionäre verloren ihre Sitze in der Führung und damit die Chance, ihre Anliegen vorzubringen. Trotzdem taten sie 1992 alles, um nach zwölf Jahren wieder einen Demokraten ins Weiße Haus zu bringen. Als Dank hat Bill Clinton ihnen das Messer in den Rücken gerammt und das Freihandelsabkommen Nafta mit Mexiko und Kanada durchgedrückt. Die Abgeordneten und Funktionäre wussten, dass ihnen die Gewerkschaften treu bleiben . . .
Bei den Republikanern finden sie noch weniger Gehör.
Ja, die Konservativen würden Gewerkschaften am liebsten abschaffen. Sie waren entscheidend für Obamas Wiederwahl, doch geholfen hat er ihnen anschließend nicht. Die Partei identifiziert sich nun mit anderen Gruppen, umwirbt die Kreativwirtschaft und IT-Experten. Kurzum: die reichen Leute mit Uni-Abschlüssen. Bildung wird zum Fetisch erhoben.
Sie bezeichnen diese Obsession in Ihrem Buch als Ideologie.
Für die Demokraten ist Bildung die Lösung aller Probleme. Umverteilung ist unnötig, weil theoretisch jeder studieren kann. Die Ideologie ist so wunderbar, weil sie diesen Eliten alles erklärt: Sie sind so wohlhabend, weil sie die besten Hochschulen besucht haben. Amerikas Konservative definieren sich über ihren Kontostand, die Liberalen berechnen den Wert ihrer Mitmenschen nach der Uni, die besucht wurde. Wenn die Arbeiter etwas vom Reichtum abhaben wollen, dann sagen sie: Wärt ihr mal aufs College gegangen. Wenn sie das getan haben, heißt es: Ihr habt das falsche Fach studiert. Zur Not war die Uni nicht gut genug, es kann nicht jeder nach Harvard.
Ein weiteres Wort, von dem die Demokraten besessen sind, ist Innovation.
Ich nenne sie gern "Inno-crats". Obama spricht ständig in einem Atemzug von Innovation und Zukunft: Nur so lasse sich Amerikas Wohlstand sichern. Unübersehbar sind die Verbindungen zu Google: Dessen Chef Eric Schmidt berät Obama seit 2008, und er hat ihm geholfen, Big Data für seine Wiederwahl zu nutzen. Google-Mitarbeiter bildeten 2012 auch die drittgrößte Gruppe an Spendern für Obama.
Beim SXSW-Technikfestival in Austin hat Obama zuletzt die Nerds aufgefordert, der Regierung zu helfen, die Effizienz des Staates zu erhöhen.
Das ist typisch für ihn. Sein Vertrauen in Branchenprofis und Absolventen der Elite-Unis ist ungebrochen. Als es um die Bewältigung der Finanzkrise ging, holte er Leute von der Wall Street. Jeder würde sagen: Die haben das Problem ausgelöst, jemand anders soll hier aufräumen. Früher spottete man, Goldman Sachs müsste "Government Sachs" heißen, weil so viele Angestellte zwischen Bank und Regierung hin und her wechseln. Zum Ende von Obamas Amtszeit sollte man von "United States of Google" sprechen. Momentan hilft Schmidt übrigens Hillary Clinton dabei, potenzielle Wähler zu identifizieren - sie hat sich als Außenministerin stets für das "Grundrecht auf Internet-Zugang" eingesetzt. Eric Schmidt ist heute der Lieblingsmilliardär der liberalen Elite und Beleg dafür, dass das Silicon Valley deutlich mehr Einfluss hat als die Wall Street.
Dabei hat das Silicon Valley eigentlich den Ruf, libertär zu sein: Die Regierung soll sich möglichst wenig einmischen.
Nein, die Gruppen verstehen sich heute prächtig. Die Top-Berater des Präsidenten versilberten ihre guten Kontakte früher an der Wall Street. Nun arbeitet David Plouffe, der Kopf hinter Obamas Wahlsiegen, für Uber. Und Jay Carney, der Ex-Sprecher des Weißen Hauses, hat bei Amazon angeheuert. Auch sie werben ständig für mehr Innovation - das ist ein hohles Wort, gegen das niemand etwas sagen kann. Wissen Sie, was Schmidt bei seinen Auftritten als Beispiel nennt?
Womöglich das fahrerlose Auto?
Richtig, das Lieblingsprojekt von Google. Dass nach dessen Einführung Millionen Amerikaner, die heute Taxis, Lastwagen oder Busse fahren, arbeitslos würden - das scheint weder Eric Schmidt zu stören noch die Demokraten, die sich früher um die kleinen Leute sorgten.
Die soziale Ungleichheit wird so wohl nicht abnehmen.
Die wachsende Schere zwischen Arm und Reich ist das größte Problem der USA, und sie wird durch moderne Technologien noch schlimmer. Im Silicon Valley tut man so, als könne Technik Armut reduzieren. Dort denkt man ebenso wie die "Inno"-crats: Die USA sollten eine Meritokratie sein, wonach die kompetentesten Leuten die wichtigsten Ämter bekleiden. Natürlich haben beide Gruppen kein Problem damit, dass die US-Oberschicht so extrem gut verdient - sie gehören ja schließlich beide zur Elite. Es ist wie mit dem Freihandel: IT-Experten haben davor genauso wenig Sorge wie Anwälte, Banker oder Lobbyisten. Es sind ja nicht ihre Jobs, die nach Mexiko oder China verlagert werden.
Die Leute haben gute Gründe, wütend zu sein. Die große Mehrheit hat sich von der Wirtschaftskrise nicht erholt, das Einkommen der Durchschnittsfamilie liegt unter dem Niveau von 2007. Die Bürger spüren, dass der Wohlstand nicht zurückkommt, weil sich etwas Strukturelles ändert: Die Mittelklasse schrumpft, und das erschüttert unsere Identität als Amerikaner. Als ich in den Siebzigern aufwuchs, gehörten alle zur Mittelklasse oder waren auf dem Weg dorthin. Ein Haus, Autos, gute Ausbildung für die Kinder - das ließ sich mit fast jedem Job erreichen. Heute sehen die Arbeiter, dass ihr Land auseinanderfällt. Sie wissen, dass Großkonzerne Milliardengewinne einfahren, aber ihnen hilft niemand.
Obwohl die Wirtschaft wächst, glaubt die Mehrheit der US-Bürger, dass Rezession herrscht. In ihrem Alltag sehen sie die Fortschritte nicht, von denen die Medien und Obama sprechen.
Dieses Phänomen gibt es seit Jahren. In den Küstenmetropolen und hier in Washington boomt die Wirtschaft. Was mich ärgert: Wenn Experten über die Umfragen reden, dann stellen sie die Bürger als dumm dar: Wissen die nicht, wie hoch der Dow-Jones-Index steht? Obama klagt oft, dass die Regierung ihre Erfolge nicht gut genug vermarktet. Für ihn ist dies das einzige Versagen. Kritikern wirft er vor, von einer "Parallelwelt des wirtschaftlichen Niedergangs" zu sprechen - doch genau das erleben Millionen Amerikaner.
Sie haben bei der Vorwahl für Bernie Sanders gestimmt, der sich für eine Umverteilung des Wohlstands ausspricht. Kommt seine Popularität überraschend?
Ja, diesen Erfolg hätte ich ihm nicht zugetraut. Sanders hat unglaublich viel erreicht, wenn man bedenkt, dass er vor einem Jahr völlig unbekannt war und aus einem Mini-Staat kommt.
Warum wird der 74 Jahre alte Sanders besonders von der Generation der Millennials so verehrt?
Amerikaner unter 35 fühlen sich verraten, und das Wort "Sozialismus" schreckt sie nicht ab. Krankenversicherung für alle, Mutterschutz, kostenlose Unis - das klingt für sie nicht radikal, sondern vernünftig. Hier versinkt eine Generation in Schulden, weil sie getan hat, was ihr eingetrichtert wurde: Sie hat studiert. Die jungen Leute merken, dass diese Bildungsbesessenheit Bullshit ist. Bei Bernie-Events schreien sie, wie hoch sie verschuldet sind. 90 000 Dollar! 150 000 Dollar! Auch ich habe eine Menge Schulden, denn ich musste eine Hypothek aufnehmen, um dieses Haus zu kaufen. Der Unterschied ist nur: Ich könnte es bei Bedarf morgen verkaufen und wäre sofort schuldenfrei.
Hilft Bernie Sanders nicht dem Republikaner-Kandidaten Donald Trump, weil er nicht aus dem Rennen ausgestiegen ist und den Weg für Hillary Clinton frei gemacht hat?
Ich glaube nicht, dass ihr diese Extrarunde schadet. In einer Demokratie geht es nicht darum, einen Kandidaten zu stärken. Alle Bürger sollen ihre Meinung äußern dürfen, und gerade in Kalifornien zieht Bernie Zehntausende an. Für mich illustriert die ganze Diskussion aber, dass der Clinton-Flügel das Konzept der Demokratie gar nicht mag. Sie haben kein echtes Interesse daran, Leute von ihren Ideen überzeugen - sie wollen lieber im Konsens regieren und mit anderen bestens ausgebildeten Leuten einen Deal suchen.
Wir sprachen anfangs kurz über Bill Clinton. Wenn heute von dessen Präsidentschaft die Rede ist, dann loben alle die boomende Wirtschaft. Stimmt dieser Eindruck?
Es stimmt, dass in den Neunzigern die Löhne kräftig stiegen. Ich denke aber an etwas anderes: Nur ein Demokrat kann eine Mehrheit für Kürzungen im Sozialsystem oder die Verschärfung des Strafrechts finden. Wenn ein Republikaner das Ende von big government ausruft, ist das Propaganda. Wenn ein Demokrat das sagt, dann geschieht es und verändert das Leben von Millionen. Fast alles, was Clinton als Präsident durchsetzte, waren konservative Projekte - etwa die Deregulierung der Banken. Er sprach vom Dritten Weg und war überzeugt, dass die Demokraten nur so Mehrheiten gewinnen können. Dass Bill Nafta durchsetzte, schadet Hillary noch heute.
Sie betont nun im Wahlkampf, dass sie das TPP-Abkommen mit den Pazifikstaaten ablehnt.
Das ist nur Show. Sie gibt die Populistin, damit sie eine Chance gegen Bernie Sanders hat. Spätestens nach ihrer Nominierung wandert sie wieder in die Mitte. Hillary Clinton ist die Symbolfigur für die professional class. Diese Gruppe aus Anwälten, Bankern oder PR-Profis hat in der Wirtschaftskrise nicht gelitten. Die wütende, verunsicherte Mittelschicht fühlt sich von anderen Kandidaten besser verstanden als von Hillary Clinton.
Auch wenn Prognosen riskant sind: Wer wird Nachfolger von Obama?
Clinton wird gewinnen, wenn es keinen Börsencrash oder Terroranschläge gibt. Auch wenn es kaum Begeisterung für sie gibt, hat sie den Sieg wohl sicher, weil Trump für die Mehrheit dieses Landes nicht vermittelbar ist. Es ist schon ironisch: Am Ende dieses Jahres der Unzufriedenheit landet wohl genau die Politikerin im Weißen Haus, die am langweiligsten und am vorhersehbarsten ist.
Dann geht mit einer Präsidentin Hillary Clinton alles so weiter wie bisher?
Sie wird nichts Grundlegendes ändern. Also wird die soziale Ungleichheit noch mehr zunehmen, alles wird ein bisschen schlimmer, und in vier Jahren sind die Leute noch wütender. Clinton ist fraglos qualifiziert und vielleicht wird sie eine großartige Präsidentin. Aber sie glaubt eben, dass alles durch Bildung zu lösen ist und eine Umverteilung nicht nötig ist. Nun herrscht jedoch eine andere Zeit: Es geht nicht mehr darum, dass die Talentierten in Yale oder Princeton studieren dürfen. Es geht um die Leute, die nicht so begabt sind. Sie sind noch immer Amerikaner, sie sind produktive Menschen. Sie wollen Teil der Mittelschicht sein und sie haben ein Recht darauf.