Terror in Afghanistan:Die neue Macht der Taliban

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Der Anschlag von Kabul beweist: Die Taliban sind so mächtig wie nie seit dem Einmarsch des Westens. An Verhandlungen mit den Aufständischen führt kein Weg mehr vorbei.

Tobias Matern

Es sind Szenen, wie sie sogar Kabul lange nicht mehr erlebt hat. Taliban-Kämpfer stürmen ein unscheinbares, von den Vereinten Nationen genutztes Gasthaus.

Szenen, wie sie sogar Kabul lange nicht mehr erlebt hat: Raketen, Schusswechsel auf offener Straße und ein gestürmtes UN-Haus. (Foto: Foto: AP)

Es kommt zu Schusswechseln auf offener Straße, die Militanten feuern zudem Raketen auf das Luxushotel Serena im Herzen der Stadt ab. Mindestens sechs UN-Mitarbeiter, drei Extremisten, zwei Sicherheitskräfte und ein Passant sterben.

Für einige Stunden sind die Straßen leer, die Einwohner trauen sich nicht mehr vor die Tür, wie ein Augenzeuge berichtet. Es sei ein "dramatischer" Vormittag gewesen, sagt Bente Aika Scheller, die das afghanische Büro der Heinrich-Böll-Stiftung leitet und keine Frau ist, die zum Alarmismus neigt.

Normalerweise berichteten vor allem deutsche Online-Medien bei Attacken in Afghanistan in übertriebener Form - in diesem Fall seien die Beiträge aber zu nüchtern ausgefallen.

Die Menschen in Kabul müssten bereits in ständiger Angst leben, aber dieses Mal hätten die Attacken "eine neue Qualität erreicht", sagt auch ein afghanischer Beobachter, der für Westler in der Hauptstadt arbeitet.

Raketenabschüsse von den umliegenden Bergen Kabuls auf den Präsidentenpalast oder militärische Komplexe wie das Isaf-Hauptquartier waren vor allem im Vorfeld der Präsidentschaftswahl im August Ziele der Militanten. "Dieses Mal war es eine kleine Pension, in der nur Zivilisten wohnen", sagt der Beobachter, der auf Anonymität besteht, weil er auch mit den Taliban Gespräche führt.

Die Extremisten brüsteten sich nach den Attacken damit, der Mittwoch in Kabul sei nur ein Vorgeschmack für weitere Anschläge vor der Stichwahl am 7. November gewesen.

Dann sollen sich Präsident Hamid Karsai und sein Herausforderer Abdullah Abdullah nach der von Manipulationen überschatteten ersten Wahlrunde erneut dem Votum der Afghanen stellen, weil der Amtsinhaber eine absolute Mehrheit verpasst hat.

Ob die Abstimmung wirklich stattfinden wird, bezweifeln Experten. Zur prekären Sicherheitslage kommen auch logistische Probleme. "Die Taliban wollen diese Phase nutzen, um ihre Stärke zu belegen", sagt der politische Beobachter. Afghanen und Ausländer sollten das Gefühl bekommen: Ihr seid nirgendwo sicher.

Tatsächlich sind die Taliban so mächtig wie nie seit dem Einmarsch des Westens nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Es dauerte zunächst nur einige Wochen, bis die Islamisten aus Kabul vertrieben waren. Die Menschen in Afghanistan sprachen voller Begeisterung davon, nach "Jahren der Dunkelheit" sei die Hoffnung an den Hindukusch zurückgekehrt.

Gespräche ohne Alternative

Inzwischen kontrollieren die Taliban wieder ganze Landesteile. Sie haben der US-Armee im Oktober ihren verlustreichsten Monat seit 2001 zugefügt. Jeden verzweifelten Aufruf von Präsident Karsai, der die Aufständischen an den Verhandlungstisch holen will, kontern diese aus einer Position der Stärke heraus.

Sie stellen eine einzige schlichte Forderung: Die westlichen Truppen müssten sich komplett zurückziehen, bevor an solche Gespräche überhaupt zu denken sei. "Wenn sie diese Forderung erfüllt bekämen, wäre das ein Desaster für ganz Afghanistan", sagt der politische Beobachter. "Es würden sofort wieder alte Fehden ausbrechen, die Taliban könnten ihren Machtbereich schnell ausdehnen, ihren Schrecken verbreiten, möglicherweise auch wieder Kabul einnehmen."

Und dennoch: Es gibt keine Alternative zu Gesprächen. Eine rein militärische Lösung lässt sich am Hindukusch nicht erzielen. Das hat bereits die Sowjetunion erfahren, die ihre Rote Armee Ende 1989 nach jahrelanger Besatzung schmachvoll abziehen musste. Der Westen solle einen Zeitplan und klar definierte Ziele für sein Engagement vorlegen, sagt der afghanische Experte. Die Taliban argumentierten zwar aus einer machtvollen Position heraus, aber ein eindeutiges Ziel verfolgten sie nicht; eine politische Einbindung in Kabul müsse auf allen Kanälen versucht werden.

Furcht vor einem Rückzug des Westens

Um dies zu erreichen, führt der Weg nach Ansicht von Fachleuten auch über das Nachbarland Pakistan. Eine Stabilisierung am Hindukusch lässt sich nach Ansicht des wohl renommiertesten Taliban-Experten Ahmed Rashid nur mit Hilfe Islamabads erreichen, das sich selbst in einem Krieg mit einer Fraktion der Militanten befindet.

Rashid schreibt in seiner jüngsten Analyse im The New York Review of Books, Teile der afghanischen Extremisten seien bis zuletzt aus dem pakistanischen Geheimdienst ISI unterstützt worden.

Denn Islamabad fürchtet sich vor einem überstürzten Rückzug des Westens aus Afghanistan, sähe dann den Rivalen Indien auf dem Vormarsch, was durch gute Beziehungen zu den afghanischen Taliban verhindert werden soll: Bisher, so Rashid, habe die pakistanische Armee die afghanischen Taliban "als strategische Anlage betrachtet" in ihrem Kampf gegen den als übermächtig empfundenen Nachbarn.

Die entscheidende Frage sei nun, so Rashid, ob Pakistans Militär "einen Strategiewandel vollziehen" werde und nicht nur die pakistanischen, sondern auch die afghanischen Taliban und Al-Qaida-Terroristen nachhaltig bekämpfen werde.

© SZ vom 29.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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