Es gibt die Bilder seit mehr als zwei Jahren. Venezolaner, die in Müllhaufen nach Essen wühlen. Patienten, die in Krankenhäusern sterben, weil sie vergeblich auf Medikamente warten. Und Demonstranten, die zu Hunderttausenden auf die Straße gehen - zu Protestaktionen, bei denen es schon mehr als 60 Tote gab. Zuletzt kam ein 17-Jähriger ums Leben.
Venezuela, das Land mit den geschätzt meisten Ölreserven der Welt, versinkt in einem Chaos, das man existenzbedrohend nennen kann. Das Land steht am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Die Inflation (720 Prozent in diesem Jahr laut Internationalem Währungsfonds) steigt auf immer neue Rekordhöhen. Die Versorgungskrise hat inzwischen selbst ehemals wohlhabende Schichten erfasst. Grundnahrungsmittel wie Eier oder Speiseöl sind kaum noch zu bekommen, selbst das Toilettenpapier ist knapp. Wer kann, verlässt das Land. Inzwischen flüchten Venezolaner zu Tausenden - sogar bis nach Europa.
Nahezu jeder Staatschef hätte angesichts einer solchen Lage längst seinen Hut nehmen müssen. Nicht so Nicolás Maduro. Der sozialistische Präsident, der das Chaos zu verantworten hat, macht keine Anstalten zurückzutreten. Und zumindest bisher wurde er auch noch nicht gestürzt, obwohl Beobachter seiner Regierung seit Jahren den nahenden Kollaps prophezeien.
Wie ist das möglich?
Dass Maduro sich an der Macht halten kann, hat er vor allem einem Akteur zu verdanken: der Fuerza Armada Nacional. Die venezolanische Armee hält ihm bisher unbeirrt die Treue, obwohl die Anführer der Opposition die Soldaten schon mehrmals dazu aufgefordert haben, sich endlich auf ihre Seite zu schlagen, um die chaotische Lage in dem Land zu beenden.
Es geht um Ideologie - und um Geld
Für die Treue der Armee zu Maduro gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Der eine hat mit Ideologie zu tun, der andere mit viel Geld und kriminellen Machenschaften. Schon Maduros ungleich charismatischerer Vorgänger, der 2013 verstorbene Hugo Chávez, hatte die Posten wichtiger Generäle und anderer hochrangiger Soldaten mit seinen Gefolgsleuten besetzt. Chávez war es auch, der das Militär in seinem Sinne umstrukturierte und dafür sorgte, dass Tausende Posten in der Armee, beim Geheimdienst und im Verteidigungsministerium von Kubanern besetzt wurden. Diesen wird nachgesagt, von der gerechten Sache des Sozialismus überzeugt zu sein und sich strikt nach den Vorgaben der Regierung in Havanna zu richten. Dass sie den Verbündeten Maduro stürzen, ist daher nicht zu erwarten.
Neben der Überzeugung bestehen aber auch andere Verbindungen zwischen Armee und Regierung. Elf von 32 Ministerien werden von ehemaligen oder amtierenden Militärs geführt. 1100 Venezolaner sind in den vergangenen Jahren zu Generälen oder Admirälen aufgestiegen - und kassieren dadurch ein gutes Gehalt, das sie der sozialistischen Regierung verdanken. Die Regierung hat die Armee in lukrative Geschäftsfelder eingebunden, unter anderem kontrollieren die Soldaten die Verteilung von Lebensmitteln, mit der sich gerade angesichts der verheerenden Knappheit und der langen Schlangen vor den Supermärkten viel Geld verdienen lässt. Einer Clique aus führenden Militärs und Regierungsvertretern wird zudem nachgesagt, gemeinsam in Drogengeschäfte verstrickt zu sein, mit denen sie viel Geld verdienen.
Und schließlich haben die Recherchen zu den Panama Papers enthüllt, dass politische wie militärische Topfunktionäre Briefkastenfirmen nutzen, um illegal Millionenbeträge ins Ausland zu schleusen. Gemeinsam bilden Politiker und Militärs so die Boliburguesía. Der Name, abgeleitet von der venezolanischen Ideologie des Bolivarismus, bezeichnet eine gesellschaftliche Kaste, die sich an den wegen der Ölförderung noch immer stattlichen Staatseinnahmen illegal bereichert. Bei einem Regierungswechsel also hätten die Spitzen von Armee und Politik viel zu verlieren - wahrscheinlich nicht nur Geld, sondern auch ihre Freiheit.
Dass Maduro durch einen Militärputsch aus dem Amt gedrängt wird, ist daher unwahrscheinlich. Allenfalls wäre ein Aufstand "von unten" denkbar - angeführt von Soldaten der mittleren bis niederen Ränge, die nicht zur Boliburguesía gehören.
Dass der sozialistische Präsident auf politischem Weg zum Rücktritt gezwungen wird, ist ebenfalls nicht in Sicht. Zwar haben Maduros Sozialisten bei den Wahlen zum Parlament 2015 eindeutig verloren. Dem Amtsenthebungsverfahren, dass die Opposition daraufhin anstrengen wollte, entging Maduro aber, indem er zunächst mit Dekreten am Parlament vorbeiregierte und es schließlich weitgehend entmachtete. Die Judikative, allen voran das Oberste Gericht des Landes, war ihm dabei immer wieder ein willfähriger Gehilfe. Auch die wichtigen Posten dort sind längst mit treuen Gefährten besetzt.
Die nächsten Präsidentschaftswahlen sind in Venezuela für Oktober 2018 angesetzt. Da Maduros Sozialisten nicht einmal mehr von einem Fünftel der Venezolaner unterstützt werden, müsste es spätestens dann zum Regierungswechsel kommen. Aber selbst das scheint derzeit nicht sicher, da das Land immer weiter in Richtung Diktatur abdriftet.
Aus den Hunderttausenden auf der Straße müssten Millionen werden
Eine Intervention von außen ist auch kaum denkbar. Zwar macht Maduro selbst immer wieder eine angebliche, von den USA angeführte Verschwörung für die Zustände in seinem Land verantwortlich. Tatsächlich aber hat das Geschehen in Lateinamerika lange schon nicht mehr außenpolitische Priorität in Washington - und Präsident Trump will sich vom früheren "Hinterhof" am liebsten komplett abschotten. Eine US-Intervention in Venezuela wird es sehr wahrscheinlich nicht geben, und andere Staaten, die dazu willens wären, sind ebenfalls nicht in Sicht. Umgekehrt hat Maduro international noch einige mächtige Verbündete, allen voran Russland.
Als einzige Möglichkeit erscheint derzeit, dass aus den Hunderttausenden, die jetzt schon auf den Straßen protestieren, schließlich Millionen werden. Irgendwann würde das die Armee zum Eingreifen zwingen. Dass es bisher nicht zu dieser letzten Eskalation kommt, hat mehrere Gründe. Einerseits ängstigen sich viele Venezolaner vor den berüchtigten Colectivos - bewaffnete Gruppen, die über das Erbe der Sozialisten wachen sollen und die Demonstrationen zuletzt blutig niederschlugen. Andererseits wissen viele der ärmeren Venezolaner aber auch nicht, was sie von der gespaltenen und teils neoliberal argumentierenden Opposition erwarten sollen.
Die dramatischen Bilder aus Venezuela könnten also noch eine Zeit lang zu sehen sein.