Südamerika:Die Zustände in Venezuela treiben das Volk auf die Straße

  • Seit zwei Wochen ziehen Menschenmassen durch die Straßen in Venezuela, um gegen die Regierung des Präsidenten Nicolás Maduro zu protestieren.
  • Bei Unruhen und Plünderungen kamen am Freitag mindestens zwölf Menschen ums Leben.
  • Angeführt wird die Protestbewegung von Freddy Guevara, dem Vizepräsidenten des Parlaments.

Von Boris Herrmann, Caracas

In einem Hochhaus im Zentrum von Caracas kommt ein junger Mann aus dem Schlafzimmer, der sich morgens um zehn schnell die Haare glättet, ehe das Interview beginnen kann. War wieder lang gestern. Dieser Mann, Freddy Guevara heißt er, lebt mit seiner Freundin in diesem winzigen Apartment. Die Einrichtung beschränkt sich auf eine Sofaecke, die von Ikea sein könnte, wenn es das in Caracas gäbe, dazu zwei Akustikgitarren, die sich einen Gitarrenständer teilen sowie ein Bücherregal mit Standardwerken über Churchill und Gandhi. Vieles wirkt verstörend normal bei Guevara zu Hause.

Das täuscht aber. Vor der Tür wachen rund um die Uhr zwei auffällig unauffällige Gestalten, die ihre großen Pistolen in zu kleinen Männerhandtaschen verbergen. Guevara, 31, kann Leibwächter gut gebrauchen, er hat den gefährlichsten Job in Venezuela: Oppositionspolitiker. Auf den ersten Blick würde man ihn eher für einen Extrembergsteiger halten. Zwischen Brille und Schnauzbart leuchtet eine rote Nase. Die hat sich er sich aber nicht in den Bergen verbrannt, sondern in den hitzigen Straßen von Caracas. Auf seiner Visitenkarte steht: "Erster Vizepräsident der Nationalversammlung".

Derzeit tritt er vor allem als Anführer der Straßenproteste in Erscheinung. Seit zwei Wochen erlebt Venezuela fast täglich Massenaufmärsche gegen die Regierung von Präsident Nicolás Maduro. Das Volk hat offenbar genug von seiner Misswirtschaft, die dem ölreichsten Staat der Erde eine beispiellose Versorgungskrise beschert. Polizei, Armee und regierungstreue Milizen gehen rabiat gegen Demonstranten vor. Mindestens acht wurden seit Anfang April erschossen. Wegen massiven Einsatzes von Tränengas musste am Donnerstag ein Krankenhaus mit 54 Neugeborenen evakuiert werden.

Inmitten der Unruhen kam es in der Nacht zu Plünderungen, mindestens zwölf Menschen kamen dabei um. Die Zahl der Todesopfer seit Beginn der Protestwelle stieg damit auf insgesamt mindestens 20.

Kein Politiker taucht so regelmäßig im Getümmel auf wie Guevara. Auf einem Video, tausendfach im Netz geteilt, ist zu sehen, wie er sich der Nationalgarde entgegenstellt, die einen Demonstranten verhaften will. Der Vizepräsident des Parlaments redet so lange auf die Soldaten ein, bis sie den Mann laufen lassen. Falls es in Venezuela noch so etwas wie Hoffnung gibt, ist Guevara wohl der größte Hoffnungsträger. Auch einer der letzten. Maduro hat seine Widersacher systematisch entmachten und einsperren lassen. Der prominenteste Oppositionsführer Leopoldo López sitzt seit drei Jahren im Gefängnis. Der zweimalige Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles wurde gerade für 15 Jahre von allen politischen Ämtern ausgeschlossen.

"Der Diktator darf sich seine Gegner nicht aussuchen"

2018 müssten Präsidentschaftswahlen stattfinden. Ob Maduro das zulässt, ist fraglich, aber Capriles wird nach Lage der Dinge so wenig antreten können wie López. Mancher deutet deshalb schon auf Freddy Guevara. Der aber wehrt ab, er ahnt wohl, dass sonst seine Tage in Freiheit gezählt wären. Freie Wahlen, sagt er, verdienten ihren Namen nur, wenn alle potenziellen Kandidaten kandidieren können. "Der Diktator darf sich seine Gegner nicht aussuchen." Kein Zweifel besteht für ihn, dass sich das schon von Hugo Chávez nicht lupenrein demokratisch geführte Land in eine Diktatur verwandelt hat.

Maduro wird oft als Chávez ohne Charisma beschrieben. Vor allem ist er ein Chávez ohne Skrupel. Der die schießwütigen Milizen nicht nur duldet, sondern für ihren patriotischen Dienst auch noch mit 500 000 Gewehren belohnen will. Und der im selben Atemzug von Frieden und Freiheit spricht. Guevara sagt: "Moderne Diktaturen wie die von Maduro funktionieren nicht wie Nordkorea. Sie haben ein Interesse, sich in einer Grauzone zu bewegen, um den Schein von Legitimität zu wahren."

Freddy Guevara, First Vice President of the National Assembly and deputy of the opposition party Popular Will (Voluntad Popular), speaks during a news conference in Caracas

In Protestkluft: Bei einer Pressekonferenz Anfang April trägt Freddy Guevara ein T-Shirt mit dem Konterfei des seit drei Jahren inhaftierten Oppositions-Führers Leopoldo López.

(Foto: Carlos Garcia Rawlins/Reuters)

In Venezuela heißt das: Er werden zwar nicht alle Zeitungen geschlossen, aber verstaatlicht oder zur Selbstzensur gezwungen. Es werden nicht alle Parteien verboten, aber alle Anführer aus dem Verkehr gezogen. Als Vizepräsident eines Parlaments, das nichts zu melden hat, kennt Guevara die Grauzonen-Taktik: "Wir dürfen uns jeden Tag treffen, aber nichts, was wir beschließen, hat irgendeinen Effekt." So geht das seit 2015, als die Opposition beim letzten freien Wahlgang eine Zweidrittelmehrheit im Kongress eroberte. Maduro ignoriert das und regiert mit Dekreten an der Legislative vorbei. Die Welt sah weitgehend tatenlos zu. Auch dem zerstrittenen Oppositionsbündnis gelang es nicht, der Frustration im Land eine Richtung zu geben. Bis Maduro einen unerklärlichen Fehler beging.

Die ganze Welt sprach von einem "Staatsstreich von oben"

Anfang April versuchte der ihm treu ergebene Oberste Gerichtshof, dem Kongress offiziell alle Kompetenzen zu entziehen. Guevara sagt: "Damit haben sie uns nur schriftlich mitgeteilt, was sie ohnehin schon praktizierten." Aber die ganze Welt sprach von einem "Staatsstreich von oben". Auch die verkrachte Opposition hatte nun ein gemeinsames Thema, aus dem Regime meldeten sich erste prominente Abweichler. Maduro mühte sich um Schadensbegrenzung. Nach 48 Stunden wurde der Entmachtungsbeschluss auf seinen Befehl zurückgezogen. Zu spät. Seither brodelt, kracht und brennt es im Land.

Freddy Guevara kam über die Studentenbewegung zur Politik. 2015 wurde er als der Direktkandidat mit dem besten Ergebnis als Abgeordneter gewählt. Aber sein Arbeitsplatz ist derzeit die Straße. Er hat das Gefühl: "Jetzt oder nie!" Naheliegende Frage: Steht dem Land ein Bürgerkrieg bevor? Eher ein Abnutzungskampf, glaubt Guevara. Er plädiert im Sinne Gandhis für passiven Widerstand. Zumal fast alle Waffengewalt bei der Regierung liegt, die sich nur mit der Armee an der Macht halten kann und deren Loyalität mit immer größeren Zugeständnissen erkauft.

Ziel der Proteste muss es laut Guevara sein, Maduro aus der Grauzone zu locken. Weiß oder schwarz. Entweder er lässt sich auf eine Rückkehr zur demokratischen Ordnung ein oder entlarvt ihre despotische Fratze. Dann würde es noch blutiger, aber dann würde irgendwann auch der Gehorsam in Polizei und Militär brechen, hofft Guevara. Er sagt: "Wenn wir den Weg der Gewalt wählen, verlieren wir."

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