Historischen Tagen merkt man ihre Historizität nicht immer an. Als Willy Brandt am 28. Oktober 1969, vor fünfzig Jahren, seine erste Regierungserklärung hielt, gab es kaum jemanden, der im Satz "Mehr Demokratie wagen" etwas Besonderes, Außergewöhnliches, Spektakuläres erkannt hätte. Der Satz wurde erst Jahre später zum Schlüsselsatz einer neuen politischen Zeit. Womöglich ergeht es dem Beschluss Nummer 3 des SPD-Parteitags vom vergangenen Wochenende ähnlich. Er ist überschrieben "Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit", ist 21 Seiten lang und wohl eines der gehaltvollsten Papiere, die in der SPD seit dem Godesberger Programm von 1959 beschlossen worden sind.
Dieser Beschluss Nummer 3 ist eine revolutionäre Evolutionserklärung: Er ist nicht einfach nur der Abschied von Gerhard Schröders Agenda 2010 und nicht einfach nur die Beerdigung von Hartz IV. Das allein verdiente schon die Bezeichnung Zäsur. Der Beschluss ist freilich noch mehr als eine solche Zäsur: Er ist der respektable Versuch, im Jahr des siebzigsten Grundgesetzjubiläums die wichtigsten Verfassungsgrundsätze neu zu deklinieren: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." Dieser Beschluss Nummer 3 versucht zu beschreiben, was Sozialstaatlichkeit im digitalen Zeitalter bedeutet und wie sie aussehen kann.
Der Beschluss ist natürlich noch nicht vom neuen Führungsduo der SPD vorbereitet worden; die Wahl von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans samt der Frage, wie es mit denen um die Zukunft der großen Koalition steht, hat das öffentliche Interesse am Parteitag dominiert. Der Beschluss Nummer 3 trägt noch die Handschrift der zurückgetretenen Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles. Wäre der Beschluss vor 15, vor zehn oder auch noch vor fünf Jahren gefasst worden, er hätte die Schlagzeilen wochenlang beherrscht, schon wegen des Abschieds von der Agenda 2010. Aber das Leben der SPD mit dieser Agenda und das Leiden an dieser Agenda - es ist in den vergangenen 15 Jahren ein Überdrussthema geworden.
Man hat sich angewöhnt, die SPD als Bordstein zu behandeln, an den sich gut pinkeln lässt
In den hochprozentigen Jahren der Sozialdemokratie wären bereits die wenigen Zeilen des Beschlusses, in denen es um digitales Arbeiten geht, ausgiebig und überwiegend zustimmend diskutiert worden: Die SPD fordert einerseits, das Recht auf mobiles Arbeiten und Homeoffice gesetzlich zu verankern, andererseits will sie aber auch die Beschäftigten vor einer überbordenden Inanspruchnahme mit einem "Recht auf Nichterreichbarkeit" schützen.
Indes: Man hat es sich angewöhnt, dieser SPD nichts Gutes mehr zuzutrauen, seitdem sie in Wahlergebnissen und Umfragen sinkt und sinkt. Man hat es sich angewöhnt, sie als Bordstein zu behandeln, an den es sich gut pinkeln lässt. Die 150 Jahre alte Partei wurde und wird so beschrieben, als habe sie eine unheilbare Krankheit - die unter anderem dazu führt, dass alles, was immer sie auch macht, falsch ist, ob sie nun nach rechts, nach links oder in die Mitte rückt.
Es ist wohl noch keine demokratische Partei in der Geschichte der Bundesrepublik über so lange Zeit so heftig und so katastrophal kritisiert worden. Das hat mit gewaltigen politischen Fehlern zu tun, die diese Partei gemacht hat; das hat auch mit enttäuschter Liebe bei nicht wenigen Kritikern zu tun; das hat auch mit einer morbiden Lust zu tun, den Tod der traditionsreichen Partei zu erleben - und somit das Verschwinden des letzten Zipfels des sozialdemokratischen Jahrhunderts.
Und so kam es wohl, dass mir am Parteitag zu Berlin, als der große Beschluss Nummer 3 mit hundert Prozent der Stimmen verabschiedet wurde, eine Szene aus Joseph Roths "Radetzkymarsch" in den Sinn kam. Der Roman handelt zwar nicht vom Zerfall der Sozialdemokratie, sondern vom Zerfall der Donaumonarchie. Aber darin gibt es eine zum Heulen ergreifende Szene: Der alte Bezirkshauptmann besucht seinen sterbenden treuen Diener; und der Diener versucht, noch unter dem Bettlaken das zu tun, was er gelernt und so lange gemacht hatte: die Hacken zum Gruß zusammenzuschlagen.
Der Solidaritätsgedanke erweckt die malade Partei zu neuem Leben
So ähnlich war es, als beim Parteitag an das Bett der maladen SPD ihre eigene große Geschichte trat. Die Delegierten hatten das Bedürfnis und die Sehnsucht danach, trotz oder gerade wegen all der Sterbelitaneien, die der SPD gesungen werden, noch einmal zu zeigen, was diese Partei eineinhalb Jahrhunderte lang gelernt und geübt hat: Die Delegierten schlugen diszipliniert die Hacken zusammen und verabschiedeten einstimmig ein Programm, das Maßstäbe setzen und die Zukunft gestalten soll. Und zugleich war dieses Hackenzusammenschlagen die Rebellion des Dieners gegen den Unterbezirkshauptmann Schröder. Es war nicht die letzte Zuckung eines Moribunden, sondern dessen Auferstehungsregung.
In Umbruchzeiten sind Utopien realistisch. Die Utopie besteht, so hat das der Philosoph Oskar Negt einmal beschrieben, in der konkreten Verneinung der als unerträglich empfundenen Verhältnisse - mit der Perspektive und Entschlossenheit, das Gegebene zum Besseren zu wenden. Das Unerträgliche: Das ist in der Arbeitsgesellschaft die Rechtlosigkeit der Crowd- und Clickworker. Das Unerträgliche: Das ist die Aussicht, dass innerhalb weniger Jahre mehr als eine Million Taxifahrer, Busfahrer, Lieferanten, Lkw- und Gabelstaplerfahrer in Deutschland ihre Arbeit verlieren werden, weil die fahrerlose Mobilität kommt. Das Unerträgliche: Immer mehr Arbeiten werden an Leiharbeitsfirmen und rechtlich Selbständige ausgelagert. Das bedeutet: Die alte Solidarität, die zu den Kernwörtern der Sozialdemokratie gehört, muss neu konkretisiert werden. Der Beschluss Nummer 3 versucht das - inklusive der Solidarität mit den Kindern und mit den Alten. Die SPD webt ein Band, welches das Leben umspannt. Das ist spannend, das verdient Aufmerksamkeit.
In der Medizin spricht man vom Lazarus-Phänomen, wenn bei Patienten, die bereits für tot erklärt worden sind, der Kreislauf wieder einsetzt. In der Biologie nennt man es Lazarus-Effekt, wenn Tiere entdeckt werden, die man für ausgestorben gehalten hat. Was der Galápagos-Seebär in der Biologie ist, das könnte, wenn die Partei großes Glück hat, in Deutschland die SPD sein. Eine Wiederentdeckung.