Hans Namuth erwacht am Morgen in seinem Pensionszimmer durch Schüsse. Das Geräusch ist beängstigend, es peitscht durch die Straßen Barcelonas, dazu Rufe und Geschrei. Namuth, 21 Jahre alt, ist mit seinem Freund Georg Reisner am Vortag erst nach Spanien gekommen, um als Pressefotograf für französische Blätter über die Arbeiter-Olympiade zu berichten.
Doch nun rennen Bewaffnete durch die Straßen, Reisner und Namuth holen ihre Kameras und werden zu Bildchronisten einer Stadt, die sich gegen den Faschismus wehrt. Plötzlich sind sie im Krieg.
Sie stolpern fast über einen Toten, einen jungen Polizisten in seiner altmodischen Uniform, mit den großen Knöpfen am Revers. Gefallen für die Republik - ganze Einheiten der Polizei verweigern sich den rechten Putschisten. Es ist der 19. Juli 1936.
Spanien, ein zerrissenes Land; einst ein Weltreich, in dem die Sonne nicht unterging, in den Dreißigern eher der Hinterhof Westeuropas. Auf dem Land leben Millionen wie im Mittelalter.
Die Zweite Republik, 1931 begründet, ist schwach, das regierende Bündnis linker Kräfte von Gegensätzen geschwächt. Anarchisten, Kommunisten, Linkssozialisten haben Zulauf, sie alle lehnen die parlamentarische Demokratie, die in Spanien offenbar unfähig ist, ein gerechteres Land zu schaffen, mehr oder weniger ab. Die alten Eliten in Militär, Adel, Großgrundbesitz, Bürgertum und katholischer Kirche hassen die Republik ohnehin.
Francos Bomber zerstören Madrids Paläste und töten Schulkinder
Am 17. Juli putscht die rechtsradikale Militärführung. "Viva la muerte", es lebe der Tod - das ist der bezeichnende Schlachtruf ihrer Elitetruppe, der spanischen Fremdenlegion. Die Generäle bringen am 18. Juli erst Spanisch-Marokko in ihre Gewalt, einen Tag später übernimmt die Armee weite Teile des Mutterlandes.
Ganze Provinzen fallen den schwerbewaffneten Faschisten unter ihrer Leitfigur, dem General Franco, in die Hände - auch weil die demokratische Linksregierung in Madrid wie gelähmt ist, als sei sie das Kaninchen vor der Schlange. Ministerpräsident Casares Quiroga schreit in seinem Büro herum und verfasst folgenlose Appelle - er scheut sich, die Anhänger der linken Parteien und Gewerkschaften zu den Waffen zu rufen. Aber eine Wahl wird er nicht haben.
Der Putsch ist ein weiterer Rückschlag für Europas Demokratien, die in den Dreißigerjahren an sich selbst verzagen angesichts des Aufstiegs totalitärer Ideologien und nationalistischer Despoten. Deutschland und Italien werden von Faschisten beherrscht. Die Sowjetunion unter Stalin ist ein abgeschottetes Land, aus dem grauenerregende Gerüchte dringen von Massenmorden und sibirischen Lagern.
In Spanien aber wird die Linke von freieren Kräften dominiert, der linkssozialistischen POUM und den Anarchisten der CNT. Sie kämpfen, als Francos Armee im Herbst 1936 Madrid angreift. Die Stadt sei, schreibt Hans Namuth, "wie ein zuckendes Nervenbündel".
Francos Bomber zerstören Madrids Paläste, töten Männer und Frauen auf der Straße und Kinder in der Schule. Franco lässt erklären, er werde die Stadt lieber vernichten, als sie "den Marxisten" zu überlassen.
Namuth, der junge Antifaschist aus Essen, 1933 vor den Nazis nach Paris geflohen, erlebt einen nächtlichen Bombenangriff mit, und der Mut der Verteidiger erscheint ihm als Sinnbild dieses Kampfes: "Sie schossen mit Gewehren, mit Pistolen nach dem vom bleichen Mond beschienenen Flugzeug. Die ganze Stadt war in Dunkel gehüllt - aber man spürte deutlich ihre Wachheit. Und man hörte laut das Herz der Großstadt schlagen."
Viele Frauen kämpfen mit auf der Seite der Republik - ein Novum in Europa. Hans Namuth fotografiert sie - junge Soldatinnen mit übergroßen, alten Armeegewehren, nicht gewillt, sich die Zukunft von den Mächten der Vergangenheit rauben zu lassen.
Der britische Schriftsteller George Orwell notiert in Katalonien: "In den ersten Schlachten hatten die Frauen ganz selbstverständlich Seite an Seite mit den Männern gekämpft." Während einer Revolution scheint das eine natürliche Sache zu sein.
Madrid fällt nicht. "No pasaran" wird zum Schlachtruf der Antifaschisten - sie werden nicht durchkommen. Für einen Augenblick lang scheint der Traum der Freiheit in Erfüllung zu gehen. Arbeitermilizen, die bewaffneten Anarchisten, Studenten und Bürger und zahllose Freiwillige aus aller Welt halten die Stadt, Letztere bilden die "internationalen Brigaden".
Der deutsche Kommunist Erich Weinert schreibt den Text für deren Lied:
"Wir, im fernen Vaterland geboren, nahmen nichts als Hass im Herzen mit. Doch wir haben die Heimat nicht verloren, uns're Heimat ist heute vor Madrid."
Lieblingstätigkeit: 'Umlegen'
Endlich, so glauben die meisten Interbrigadisten, biete sich die Chance, den Faschisten entgegenzutreten. Intellektuelle und Arbeiter aus vielen Ländern eilen in den Kampf für die Republik. Es ist, für den Augenblick, als finde Europa seine Kraft und sein Gesicht zurück.
"Die Selbstlosigkeit ihrer Motive", schreibt der britische Militärhistoriker Antony Beevor in seinem Buch über den Spanischen Bürgerkrieg, "steht außer Frage. Spanien wurde für das Schlachtfeld gehalten, auf dem sich die Zukunft entscheiden würde."
Auch Martha Gellhorn, die amerikanische Starreporterin und damals Lebensgefährtin von Ernest Hemingway, sieht Spanien als "eine Sache, die uns alle angeht, alle, die keine Welt wollen, deren Bibel 'Mein Kampf' ist". Wie viele Berichterstatter wohnen Gellhorn und Hemingway im Madrider Hotel "Florida". Das Paar, sofern es nicht mit seiner spannungsreichen Beziehung befasst ist, will die Welt aufrütteln. Und mit Grund.
Vive la muerte. Von Beginn an gehen die Faschisten mit sadistischer Brutalität vor. Folter, Vergewaltigungen, Massenmorde sind Teil ihrer Kriegführung. Schätzungsweise 200 000 Menschen fallen ihr bis 1939 zum Opfer.
Der deutsche Exilschriftsteller Franz Werfel beschreibt die systematischen Morde nach der Einnahme von Malaga durch die nationalistischen Soldaten: "Der neuartige Typus, der hier am Werke war, hatte für seine Lieblingstätigkeit das richtige Wort gefunden: 'Umlegen'. Männer wurden umgelegt wie Stangen. Man riß sie vom Wagen herunter: Zwei Ärzte, die nichts mit Politik zu tun hatten, der Zeitungsherausgeber mit seinen drei Mitarbeitern. Der Schriftsteller und der berühmte Maler und drei unbedeutende Beamte des gestürzten Regimes."
Es ist eine Vorahnung dessen, was der Welt wenige Jahre später bevorsteht. Der chilenische Dichter Pablo Neruda verfasst einen Aufschrei in Versen:
"Kommt, seht das Blut auf den Straßen, Kommt, seht / das Blut auf den Straßen. Kommt, seht, das Blut / auf den Straßen."
Doch alle Beschwörungen sind umsonst. Die Welt soll hinsehen, aber sie tut es nicht. Die unterlassene Hilfeleistung der demokratischen Mächte für Spanien gilt bis heute höchstens als Randerscheinung der westlichen Appeasement-Politik, der Beschwichtigung Hitlerdeutschlands durch immer neue Zugeständnisse.
In Wahrheit war es eine ihrer größten Fehlleistungen. Die Demokratien sehen weg, obwohl der mörderische Bürgerkrieg die Killing Fields des Zweiten Weltkriegs schon ahnen ließ. Die faschistischen Staaten Italien und Deutschland schicken Geld, Waffen und schließlich Soldaten wie die deutsche "Legion Condor", die beim fürchterlichen Bombenangriff auf Guernica im April 1937 Hunderte Zivilisten tötet und dabei schon die neuen Waffen wie die Schnellbomber testet. Nicht mehr lange, und diese Waffen werden jene Staaten verwüsten, die nun abseits stehen.
Warum nur? In Frankreich herrscht seit 1936 sogar eine linke Volksfrontregierung, die Basis ihrer Parteien will Spaniens Republik unterstützen. Doch Léon Blum, der ehrwürdige Premierminister, setzt den Gegenkurs durch - ein Abkommen zur Nichteinmischung, unterzeichnet von Frankreich, Großbritannien, dem Deutschen Reich und Italien.
Die Diktatoren in Berlin und Rom ignorieren das Papier vom ersten Tag an, die demokratischen Mächte setzen es mit einer Besessenheit um, die eines erkennen lässt: Die Faschisten scheinen für ein verzagendes Europa das kleinere Übel als die "rote Gefahr" mit ihrem weltweiten Netz kommunistischer Parteien zu sein, manche sagen das ganz offen.
Und Stalin gewinnt immer mehr an Einfluss in der spanischen Republik. Es ist die Zeit der "großen Säuberungen", der Mordorgie an den eigenen Genossen in der Sowjetunion zur Festigung von Stalins Macht.
Jecheskel Piekar, ein jüdischer Freiwilliger aus Palästina, ist mit dem französischen Schriftsteller André Malraux zur Kampffliegerstaffel España gestoßen. Sie fliegen schwerfällige Potez-540-Maschinen, hoffnungslos veraltete Bomber mit Sperrholzflügeln, und greifen in selbstmörderischen Einsätzen Francos Truppen an. No pasaran! "Unsere Staffel", berichtet Piekar später, "war ein stark gemischter Haufen" aus allen Regionen Europas: "Aber die politischen Meinungen haben niemanden interessiert." Das ändert sich unter Stalins Zugriff.
Die Luftwaffe der Republik erhält modernere sowjetische Maschinen, aber die Politkommissare der Kommunisten sieben die Besatzungen systematisch aus, zwei Männer verschwinden spurlos. Piekar setzt sich ab: "Wir kamen, um für Spanien zu kämpfen, und nicht für diese oder jene Partei. Das war das Ende der Staffel."
Viele Menschen, die auf Seiten der Republik stehen, erkennen zu spät, was hier geschieht. Sie ignorieren die kommunistischen "Säuberungen" und viele weitere Menschenrechtsverletzungen oder betrachten sie als notwendiges Übel.
Hans Namuth notiert schon am 3. September 1936: "In Ciudad Real wurden 322 Großgrundbesitzer expropriiert." Ihm soll es nur recht sein, aber, fragt er: "Was geschah mit den Besitzern? Darauf antworteten die Genossen vom agrarpolitischen Komitee nur sehr vorsichtig und ausweichend." Schließlich erfährt er, man habe "die Faschisten" unter ihnen allesamt erschossen. Wie viele denn Faschisten gewesen seien? "95 Prozent."
Namuth ist empört, er vertraut seinem Tagebuch an: "Ich habe den Eindruck, daß man viele zu Faschisten macht, um sie loszuwerden."
Eine Reporterin beklagt den "verlogensten, grausamsten Ausverkauf" aller Werte
Niemand außer den Sowjets schickt Flugzeuge, Panzer und Ausbilder zu Spaniens Antifaschisten, die immer abhängiger werden und einen furchtbaren Preis zahlen. Andres Nin, Mitbegründer der POUM, verschwindet 1937, es heißt, kommunistische Geheimpolizisten hätten ihn gefangen, schrecklich gefoltert und dann ermordet.
Die Republik tötet ihre Kinder, und je mehr von ihnen sterben, desto weniger ist sie noch Republik. Je mehr die stalinistischen Politkommissare die demokratischen, linkssozialistischen, anarchistischen Kräfte schwächen, desto mehr sehen die Staatsmänner des Westens ihre schlimmsten Ängste vor der roten Gefahr bestätigt; sie rühren nun erst recht keine Hand, und die Republik geht nach tapferem Kampf unter in einer Orgie aus Blut, Rache und Repression.
Im März 1939 gehört Spanien Franco. Er wird Hitler und Mussolini zu deren Verdruss wenig danken, geschickt hält er sein Land aus dem Zweiten Weltkrieg heraus - Spanien aber versinkt bis 1975 im Halbdüster seiner gestrigen Despotie.
Hans Namuth flieht 1939 erneut vor den Faschisten und geht zur französischen Fremdenlegion. Als Frankreich 1940 von den Nazis besetzt wird, schafft er es auf Irrwegen in die USA - und setzt seinen Kampf als Soldat der US Army fort. Er ist dabei, als Deutschland endlich befreit wird. Später lebt er als bekannter Fotograf in New York. So nimmt seine Geschichte ein glücklicheres Ende als die jenes Landes, dem er 1936 in seinen Bildern ein Denkmal gesetzt hat.
Die Republik hätte nicht sterben müssen. Weitsichtig beklagt Martha Gellhorn in ihren Briefen das Versagen der westlichen Demokratien in Spanien: Sie sei "zornig bis ins Mark", und diesem Krieg werde ein großer Krieg folgen, und der "dümmste, verlogenste, grausamste Ausverkauf" aller Werte werde ihn nicht verhindern. Wie recht sie behalten sollte.