Antony Beevor, Jahrgang 1946, gehört zu den führenden Experten für den Zweiten Weltkrieg. Der Brite erhielt zahlreiche Preise für seine Bücher, darunter: "Stalingrad", "Berlin 1945. Das Ende" und zuletzt "Der Zweite Weltkrieg".
Als sich Hitler im Dezember 1940 zum Feldzug gegen die Sowjetunion entschied, ignorierte er sowohl Bismarcks alte Warnungen davor, in Russland einzumarschieren, als auch die längst erkannten Gefahren eines Zweifrontenkrieges.
Sein lang gehegtes Ziel, den "jüdischen Bolschewismus" zu zerschmettern, war rein aus dem Gefühl und der Ideologie heraus entstanden. Aber er rechtfertigte seine Idee den deutschen Generälen gegenüber als den sichersten Weg, Großbritannien zu zwingen, mit Deutschland zu einer Einigung zu kommen. Und sobald die Sowjetunion besiegt wäre, würde Japan in der Lage sein, Amerikas Aufmerksamkeit von Europa weg hin zum Pazifik zu lenken.
Strategisches Ziel der Nazi-Führung war es, sich das Öl und die Nahrungsmittel der Sowjetunion zu sichern. Hatten sie das erst einmal erreicht, glaubten sie, würde das Dritte Reich unbesiegbar werden. Hitler schwankte vergleichsweise häufig in seiner Haltung zu großen Vorhaben, seine Idee einer Invasion der Sowjetunion aber lässt sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zurückverfolgen.
Sowjetische Verdächtigungen gegen Churchill
Die deutsche Besetzung der Ukraine im Jahre 1918 unter Generalfeldmarschall Hermann von Eichhorn hatte ihn stets fasziniert. Eine erneute Kontrolle über dieses Gebiet würde Deutschland autark machen, eine Wiederholung der britischen Blockade wie im Ersten Weltkrieg verhindern und damit die Hungersnöte, die damals die Folge gewesen waren.
Die gesamten ersten sechs Monate des Jahres 1941 hindurch verdächtigte Stalin den britischen Premierminister Winston Churchill, einen Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion provozieren zu wollen, um so sein bedrängtes Land zu retten.
Der Diktator schlug alle britischen Warnungen über die deutsche Vorbereitung für eine Invasion der Sowjetunion in den Wind, für ihn waren sie nichts als "angliiskaya provokatsiya". Sogar detaillierte Informationen seiner eigenen Geheimdienste wies er wütend zurück, oft mit der Begründung, dass die Agenten im Ausland korrumpiert worden seien.
Glaubte zwischenzeitlich, Churchill wollte sich mit Nazi-Deutschland gegen die UdSSR verbünden: Sowjetführer Stalin (li.) mit dem britischen Premierminister
(Foto: Getty Images)Der bizarre Flug des selbsternannten diplomatischen Vermittlers Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreters, nach Großbritannien am 10. Mai 1941 löste in Deutschland Fassungslosigkeit und in England Verlegenheit aus, in Moskau jedoch tiefes Misstrauen. Die britische Regierung ging mit der Angelegenheit ganz falsch um, als sie versuchte, Heß' Ankunft geheim zu halten.
Churchill hätte besser unverzüglich bekannt gegeben, dass Hitler versucht habe, ihm ein Friedensangebote zu unterbreiten, er dieses aber rundheraus abgelehnt habe. Stalin fragte sich nun, ob der Erz-Antibolschewist Churchill sich heimlich mit den Deutschen gegen ihn verschwören wolle. Er hegte den Verdacht, der britische Secret Intelligence Service habe Heß' Flugzeug ins Land geleitet.
Die erstaunlichste Warnung vor der Invasion kam vom deutschen Botschafter in Moskau, Friedrich Werner Graf von der Schulenburg, einem Nazi-Gegner, der später wegen seiner Rolle beim Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 exekutiert wurde. Als Stalin erfuhr, was von der Schulenburg gesagt hatte, geriet er außer sich, er glaubte kein Wort davon. "Nun hat die Desinformation schon die Botschafterebene erreicht!", schrie er.
Der Sowjetführer redete sich ein, dass die Deutschen mit ihrem Aufmarsch an seiner Westgrenze nichts anderes beabsichtigten, als Druck auf ihn auszuüben, um bei einer Neufassung des Molotow-Ribbentrop-Pakts mehr Zugeständnisse herauszuschlagen (in dem Pakt von 1939 und einem zugehörigen Geheimabkommen hatten das Deutsche Reich und die Sowjetunion faktisch Osteuropa unter sich aufgeteilt und ihre Interessensphären abgesteckt; SZ).
Ein Krieg, wie es ihn noch nie gegeben hatte: Deutscher Soldat vor einem brennenden russischen Dorf, ca. 1941/1942.
(Foto: Keystone)Für einen Menschen, der so paranoid war wie Stalin, ist die Selbstverleugnung außerordentlich, mit der er Hitlers Versicherung in einem Brief zu Beginn des Jahres akzeptierte, dass die deutschen Truppen sich nur deshalb nach Osten bewegten, um sich außer Reichweite britischer Bomber zu bringen.
Generalleutnant Filipp Golikow, der unerfahrene Direktor der GRU (Hauptverwaltung für Aufklärung), des russischen militärischen Nachrichtendienstes, war ebenfalls überzeugt: Hitler werde die Sowjetunion niemals angreifen, bevor er nicht Großbritannien niedergeworfen hatte.
Golikow weigerte sich, irgendeine der Erkenntnisse seiner Dienststelle über die deutschen Absichten an Georgii Schukow, den Chef des Generalstabes, oder an Marschall Semjon Timoschenko weiterzuleiten, der Kliment Woroschilow als Kommissar für Verteidigung ersetzt hatte.