Spanien:Wider das Vergessen

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Republikaner kämpfen an einer Straßenfront während des Spanischen Bürgerkriegs. (Foto: STF/AFP)

Die Erinnerung an den Bürgerkrieg und die Opfer der Franco-Diktatur spaltet Spanien. Historiker und Linke kämpfen für Aufklärung - aber wie reagieren Konservative und Rechte?

Von Patrick Illinger, Salamanca

Ganz Spanien wird derzeit kartiert, an Hunderten Orten wird gegraben und das Gefundene genetisch analysiert. Mehr als 2500 Stellen gibt es, bis hin zu den Kanarischen Inseln, an denen Historiker, Anthropologen und Forensiker menschliche Überreste aufgespürt haben oder noch vermuten. Es sind die Knochen von Menschen, die während der Zeit des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur erschossen oder stranguliert wurden. 11 000 Leichen wurden bisher entdeckt, in Minen oder Brunnen, unter Brücken und in ausgeschaufelten Erdlöchern.

Vielerorts suchen die Forschenden vergeblich, zu unpräzise sind die Informationsquellen, die auf fosas hinweisen, auf unmarkierte Gräber. Doch immer öfter gelingt es, anonymen Leichen per DNA-Analyse einen Namen zuzuweisen und den Nachkommen zumindest den Trost der Gewissheit und eine ordentliche Bestattung zukommen zu lassen.

Doch beim Trost soll es nicht bleiben. Das Jahrzehnte lang verschwiegene Grauen des Spanischen Bürgerkriegs und der bis 1975 dauernden faschistischen Diktatur soll gründlich aufgearbeitet werden. Die Suche nach Opfern ist nur ein Weg dorthin.

Beim Schulunterricht soll es beginnen

"Vieles, was junge Leute noch heute in der Schule gelehrt wird, ist völliger Unsinn", sagt Ángel Viñas, einer der einflussreichsten Ökonomen und Geschichtswissenschaftler Spaniens in dieser Woche bei einer Historiker-Konferenz in Salamanca. In der Universitätsstadt lagert das Gedächtnis des Landes: das Staatsarchiv des Bürgerkriegs mit unzähligen Artefakten, Dokumenten und 250 000 historischen Fotografien, sowie das Centro Documental de la Memoria Histórica, ein Dokumentationszentrum der historischen Erinnerung, nur wenige Schritte von der Plaza Mayor entfernt. Ironischerweise einst von Diktator Francisco Franco als Kartei politischer Gegner angelegt, ist das Archiv heute ein Hort der Aufklärung und eine Anlaufstelle für Historiker.

Bei akademischer Forschung soll es nicht bleiben. Seit 2018 gibt es ein Staatssekretariat für demokratische Erinnerung, angesiedelt im Präsidialministerium. Neben der moralischen Verpflichtung gebe es auch ein "Recht der Bevölkerung" zu wissen, was geschah, sagte Staatssekretär Fernando Martínez López, selbst Historiker, bei der Konferenz in Salamanca. Ein Recht, das der Politiker am liebsten mit einer eigens zuständigen Staatsanwaltschaft durchsetzen würde.

"Das Gesetz ist schön und gut", mahnte der Organisator der Konferenz, Juan Andrés Blanco "nun muss es auch in die Gesellschaft diffundieren!" Das soll beim Schulunterricht beginnen. Insbesondere die Zäsur zwischen der zweiten Republik (1931 bis 1936) und dem Bürgerkrieg (1936 bis 1939) soll hervorgehoben werden: sie war ein Staatsstreich der Faschisten, von Lügen und Propaganda begleitet, und nicht das Versagen der Republik, oder gar eine Befreiung vom Bolschewismus.

Die Rechte würde lieber vergessen als erinnern

Doch Spanien ist zutiefst gespalten. Teile des konservativen Partido Popular sowie der rechtsextremen Vox würden lieber vergessen als erinnern. Nach vorne blicken nennen sie das. In der Übergangszeit zwischen Diktatur und Demokratie, der transición waren auch die Linken damit einverstanden gewesen: Schwamm drüber.

Lange galt der Bürgerkrieg als kollektives Unglück mit unklarer Schuldlage. Ein Narrativ, das den Rechten und Franquisten zupass kam. Und der Linken ging es darum, die Unrechtsurteile des Faschismus zu annullieren. Amnesie gegen Amnestie.

Erst um die Jahrtausendwende begannen Nachkommen der Bürgerkriegsopfer, ihre Rechte einzufordern. Erste Massengräber wurden ausgehoben und erste Leichen identifiziert, anfangs nur mit der Unterstützung privater Initiativen. Behutsam wurden auch erste Straßen umbenannt, in Madrid und Sevilla gab es symbolische Beerdigungen prominenter republikanischer Opfer.

Ein Massengrab in El Estepar aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs. (Foto: Daniel Ochoa de Olza/AP)

2007 folgte ein erstes Gesetz zur historischen Erinnerung. Als von 2011 bis 2018 der konservative Mariano Rajoy regierte, machte sich wieder die kollektive Gedächtnislücke breit. Erst mit der Machtübernahme der Sozialisten 2018 wurde die memoria histórica zur memoria democrática, und 2022 kam ein neues Gesetz. Es stellt die Opfer in den Mittelpunkt, unter anderem mit einem landesweiten Zensus, der auch das Leid der Frauen würdigt. Der Staat finanziert nun die Suche nach Gräbern. Und eine Gendatenbank soll die Identifizierung erleichtern.

Der heikelste Fundort vermisster Bürgerkriegsopfer ist die Krypta im Tal von Cuelgamuros, das bis vor kurzem noch "Tal der Gefallenen" hieß. Es ist das pompöse, von 1940 bis 1958 errichtete Denkmal nordwestlich von Madrid, das Franco seinem Sieg widmete. Dort, in Kellern unter dem mittlerweile umgebetteten Grab des Diktators, befinden sich die Knochen von mehr als 33 000 Menschen. Von 1959 an ließ Franco Überreste von Bürgerkriegstoten in die Kultstätte schaffen, und weil sich nicht genügend Leichen fanden, wurden auch Republikaner aus Gräbern gebuddelt, oft ohne das Wissen der Familien oder ohne deren Einverständnis. Bis 1983 ging das so, acht Jahre nach Francos Tod.

In den Untergeschossen der Gedenkstätte arbeiten nun Forensiker an der Identifizierung der zusammengewürfelten und in morschen, zusammengestürzten Holzkisten gestapelten Knochenreste. Mehr als hundert Familien gibt es, die Angehörige in der Krypta vermuten und sich Klarheit wünschen. Dass dort exhumiert wird, beschimpfen Konservative als Grabschändung und versuchten, es zu verhindern. Mit einem Regierungswechsel in Madrid würden die Toten von Cuelgamuros wohl wieder in die Anonymität entschwinden.

Die spanische Verfassung ist großzügig

"Im Grunde ist Spanien auf dem Aufklärungsstand Deutschlands der 1970er Jahre, nur dass die Rückwärtsgewandten nicht aussterben. Sie wachsen nach, und anders als die AfD sind sie in weiten Teilen der Gesellschaft verwurzelt", sagt der deutsch-spanische Historiker Carlos Collado Seidel. Zu den Gegnern der memoria democrática zählen nicht nur die rechten politischen Parteien, sondern auch offen faschistische Organisationen wie die "Stiftung Francisco Franco", deren Existenz in einem demokratischen Staat seltsam anmutet. Doch die spanische Verfassung sei großzügig, erklärte die Juristin María Eugenia Torijano bei der Tagung in Salamanca, "anders als das deutsche Grundgesetz".

Immerhin ermögliche das Erinnerungsgesetz von 2022 nun auch Sanktionen, wenn sich Regionalregierungen oder einzelne Bürgermeister widersetzen, sagt Staatssekretär Martínez. Das betrifft nicht nur die Exhumierung von Bürgerkriegsopfern, sondern auch die Entfernung von Straßennamen und Denkmälern aus der Zeit des Faschismus. In Kastilien und Leon sind erste Stolpersteine mit Namen politisch Verfolgter angebracht worden. In Salamanca soll sogar ein Mahnmal entstehen, das der Todesstiege von Mauthausen ähnelt.

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Viele Städte und Regionen haben in den vergangenen Jahren eigene Gesetze zur Erinnerungskultur geschaffen. Doch deren Haltbarkeit hängt vom politischen Klima ab. In Kantabrien, wo seit den Regionalwahlen vom Mai eine rechts-konservative Koalition regiert, hat die Volkspartei PP dem Vorstoß der ultranationalistischen Vox nachgegeben, das Gesetz zur Erinnerung zu beseitigen. Es sei "einseitig, sektiererisch" und angeblich nur entstanden, um den Kantabriern zu schaden.

Um die Zerrissenheit Spaniens zu spüren, brauchte man bei der Konferenz in Salamanca nur vor die Tür zu treten, und auf einen prächtigen Altstadtturm zu blicken. An dessen Außenwand prangt ein meterhohes, in Stein gemeißeltes Wappen mit Adler. Es ist das Wappen des Diktators Francisco Franco.

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