Zahlenmäßig scheint es sich um ein vernachlässigbares Problem zu handeln: An diesem Sonntag stimmen die Schweizer darüber ab, ob Gesichtsverhüllungen im öffentlichen Raum künftig verboten werden sollen. Da geht es in erster Linie um die Ganzkörperschleier Nikab oder Burka, aber auch um Vermummungen von Hooligans oder Demonstranten. Nur: Was die religiös begründete Verhüllung angeht, zählt die Schweiz nicht zu den Staaten, in denen vollverschleierte Frauen zum üblichen Straßenbild gehören.
Insgesamt machen Muslime an der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz ab 15 Jahren rund fünf Prozent aus, das sind etwa 390 000 Menschen. Der Religionsforscher Andreas Tunger-Zanetti von der Uni Luzern schätzt, dass unter den Schweizer Musliminnen nur rund 30 Frauen ihr Gesicht in der Öffentlichkeit fast vollständig verhüllen - eine verschwindend geringe Zahl. Die meisten Vollverschleierten, die man auf Schweizer Straßen zu Gesicht bekommt, sind also Touristinnen aus den Golfstaaten, die vor allem in den Sommermonaten durchs Land reisen.
Volksentscheid:Schweizer stimmen über Verhüllungsverbot ab
Rechtskonservative Kreise wollen Burka und Nikab im öffentlichen Raum verbieten. Regierung und Parlamentsmehrheit sind dagegen - in der Bevölkerung zeichnet sich eine Tendenz ab.
Trotzdem diskutiert die Schweiz nun seit Monaten, ob sie ein schweizweites "Burka-Verbot" braucht oder nicht. Lanciert hat die Volksabstimmung das Egerkinger Komitee, ein islamkritischer Verein, welcher der rechtskonservativen SVP nahe steht. 2009 war es dem Komitee bereits gelungen, per Volksabstimmung ein Bauverbot von Minaretten durchzusetzen. Das Verhüllungsverbot soll der nächste große Erfolg werden. Man wolle damit Extremismus zu stoppen und für Freiheit und Gleichberechtigung kämpfen. Obwohl die Zustimmung in Umfragen zuletzt stark gesunken ist, hat die Vorlage noch eine echte Chance: 49 Prozent könnten am Sonntag laut der jüngsten Erhebung für ein Verbot stimmen, vier Prozent sind noch unentschieden.
Die Gegner des Verbots sind mehr geworden, doch es wird knapp
Es wird also ein knappes Rennen zwischen den Befürwortern - die vor allem aus dem rechten Spektrum kommen - und den Gegnern, deren Lager in den vergangenen Wochen größer wurde. Die Schweizer Regierung lehnt die Initiative genauso ab wie die Mehrheit des Parlaments. Für ein Nein plädieren die liberale FDP, die Grünen und die Grünliberalen. Zuletzt haben sich auch die Sozialdemokraten dem gegnerischen Lager angeschlossen, sie betonen, dass Kleidervorschriften für Frauen grundsätzlich sexistisch seien und sie das Problem von Zwangsverhüllung nicht lösen würden. Auch religiöse Frauenverbände bekämpfen das Verbot, ihr zentrales Argument: Ein Verhüllungsverbot untergrabe religiöse Toleranz und helfe unterdrückten Frauen nicht.
Das Nein-Lager erhält zudem Unterstützung aus ungewöhnlicher Richtung: von den Tourismusverbänden. Denn insbesondere im Berner Oberland und in der Genfersee-Region befürchtet man, dass ein Verhüllungsverbot die zahlungskräftigen Besucher aus der Golfregion abschrecken könnte. Mehrere Verbände haben sich deshalb zu einem Nein-Komitee zusammengeschlossen. "Das Burkaverbot würde unser Image als gastfreundliches Tourismusland beschädigen", sagt etwa Nicole Brändle Schlegel von Hotellerie Suisse. Gäste aus den Golfstaaten, so der Hotelverband, seien für den Schweizer Tourismus ein wichtiger und wachsender Markt: Seit 2007 seien die Hotelübernachtungen von Gästen aus dem arabischen Raum um 130 Prozent gestiegen.
Im Moment belegen die Golfstaaten Platz sieben unter den wichtigsten ausländischen Touristengruppen in der Schweiz. Das ist anteilsmäßig nicht so viel, allerdings gibt es kaum Gästegruppen, die mehr konsumieren: 420 Franken geben Besucher aus der Golfregion pro Tag in der Schweiz aus. Deutsche, die größte Gruppe der ausländischen Touristen, lassen täglich nur 130 Franken da.
Ob ein Verhüllungsverbot Gäste aus dem Nahen und Mittleren Osten wirklich abschrecken würde, lässt sich jedoch nicht zweifelsfrei vorhersagen. Aus dem Kanton Tessin, wo seit 2016 ein Verhüllungsverbot gilt, hört man nichts von einem Einbruch der Besucherzahlen aus der Golfregion; allerdings zählten diese dort noch nie zu den wichtigen Touristengruppen. In Österreich, das seit 2017 Vollverschleierung verbietet, gibt es ähnliche Golfstaaten-Hotspots wie in der Schweiz, etwa Zell am See in Tirol. Doch auch diese Orte verzeichnen keinen signifikanten Rückgang der Besucher, seit das Verbot gilt, wie der Tages-Anzeiger berichtet.