Schwarze US-Bürgerrechtler:Wie Parks und King entpolitisiert wurden

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Rosa Parks im Jahr 1965 und Martin Luther King jr. auf seiner berühmtesten Rede in Washington im Jahr 1963 (Foto: AP/AFP)

Die Erinnerungskultur der USA hat Martin Luther King und Rosa Parks verharmlost, sagt die Historikerin Jeanne Theoharis - auch wegen ihrer Kritik am Kapitalismus.

Von Matthias Kolb

Als Martin Luther King am 4. April 1968 von einem Rassisten auf dem Balkon des "Lorraine"-Motels in Memphis ermordet wurde, war er ziemlich unbeliebt. Zwei Jahre zuvor hatte Gallup die US-Amerikaner ein letztes Mal gefragt, was sie vom Anführer der Bürgerrechtsbewegung halten würden: 1966 sahen ihn nur 32 Prozent der US-Amerikaner positiv, während 63 Prozent ein negatives Bild hatten.

Damals schien noch undenkbar, dass Kings Geburtstag 1983 zum Feiertag erklärt werden, er 2011 ein Denkmal auf der National Mall in Washington erhalten und sein Name am häufigsten genannt werden würde, wenn nach "dem größten Amerikaner, der nicht Präsident war" gefragt wird. All das ist positiv: Die USA gedenken eines Mannes, der stets am gewaltlosen Protest festhielt, den enormen Rassismus anprangerte und mit seinem rhetorischen Talent ("I have a Dream") dafür sorgte, dass die Trennung zwischen Weißen und Schwarzen in den Südstaaten überwunden wurde.

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Das ist das Narrativ, das in den USA und weltweit die Feierlichkeiten zum 50. Todestag von Martin Luther King bestimmte (laut Gallup sehen ihn heute 94 Prozent der US-Bürger positiv). Allerdings ist es ein verengter Blick auf die Vergangenheit und für weiße Amerikaner vor allem eines: bequem. So sagt etwa die Historikerin Jeanne Theoharis: King und auch Rosa Parks waren echte Rebellen, die den Vietnam-Krieg beenden und den Kapitalismus zähmen wollten. Zudem sollten sich die Schwarzen mit armen Weißen zusammentun.

Theoharis kritisiert an der Mainstream-Erinnerungskultur, dass sich diese nur auf herausragende Persönlichkeiten konzentriere und Strukturen vernachlässige. Gerade King und Rosa Parks, die 1955 den Bus-Boykott in Montgomery auslöste, würden so sehr als "Ikonen" dargestellt, dass jüngere Schwarze das Gefühl bekommen könnten, sie selbst seien zu unbedeutend, um durch Protest ihre Lage ändern zu können. Den falschen Vorwurf, "King hätte so etwas nicht gemacht", bekommen vor allem Black-Lives-Matter-Aktivisten (BLM) zu hören, die dadurch dämonisiert werden sollen.

In einem Interview mit dem Radiosender NPR formuliert es Theoharis so: "Die Geschichte der US-Bürgerrechtsbewegung sollte uns demütig werden lassen. Wir reden aber in der Öffentlichkeit auf eine Art darüber, dass wir uns gut fühlen und uns einreden können, dass wir Fortschritte erzielt haben." Dabei seien die USA im Kampf gegen die "drei Übel", von denen King stets sprach - Rassismus, Armut und Kriege - nicht wirklich vorangekommen, so ihr nüchternes Fazit.

In aller Klarheit: Theoharis geht es nicht darum, die Leistung und den Mut von Parks und King zu mindern oder deren Beliebtheit zu beklagen. Die am Brooklyn College lehrende Historikerin will die Bewegung mit der ganzen Breite ihrer Forderungen würdigen und auch auf die vielen unbekannten Heldinnen und Helden hinweisen. Mit "The Rebellious Life of Mrs. Rosa Parks" landete Theoharis 2015 einen Bestseller und im aktuellen Buch "A more beautiful and terrible history" schreibt sie provozierend von "Fabeln", die den Amerikanern erzählt würden. Das Wort passt: In diesen Erzählungen gibt es stets eine "Moral", die die Zuhörer beherzigen sollen.

Republikaner ziehen Symbolpolitik echten Reformen vor

Exemplarisch ist das Verhalten von Ronald Reagan, der Ende 1983 den 21. Januar zum "Martin Luther King Day" erklärte. Der damalige Präsident dachte vor allem an seine Wiederwahl und erklärte per Brief einem Parteifreund, warum er kein Veto einlege: Es sei besser, den Schwarzen und den Liberalen "symbolisch" entgegenzukommen, als substanziell etwas zu ändern, so der Republikaner ( so könnte man auch die Trump-Tweets "zu Ehren von King" interpretieren).

In Reagans Rede steckt alles, was Theoharis an Amerikas Bürgerrechts-"Fabel" kritisiert: "Wir widmen nun jedes Jahr einen Tag dafür, um Martin Luther King und seine Anliegen zu ehren. Wir haben historische Fortschritte gemacht, seit sich Rosa Parks weigerte, im Bus nach hinten zu gehen. Als demokratisches Volk können wir stolz darauf sein, dass wir Amerikaner ein historisches Unrecht erkannt und Handlungen unternommen haben, diese zu korrigieren."

Was wollte Reagan vermitteln? Es waren einige mutige Individuen, die auf eine frühere Ungerechtigkeit hinwiesen. Diese sei nun aber korrigiert worden, wodurch die US-Demokratie ihre Selbstheilungskräfte bewiesen habe (nachdem genau diese Demokratie jahrzehntelang Millionen Bürger von den Wahlurnen fernhielt). Rassismus lasse sich durch "individuelle Sünden und nicht durch politisch gewollte Strukturen" erklären und sei nur in den Südstaaten vorgekommen, so das Credo.

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Im Umkehrschluss bedeutet diese Darstellung: Wenn es jetzt noch Probleme (jede zweite US-Schule ist laut Economist noch heute nach Hautfarbe getrennt) und soziale Ungleichheit ( das Durchschnittsvermögen eines weißen Amerikaners ist 13 mal größer als das eines Afroamerikaners) gibt, dann ist dies die individuelle Schuld der farbigen US-Bürger.

Zu den oft vergessenen Aspekten der Biographie von Martin Luther King gehört der Blick auf die Wirtschaft. Er war überzeugt, dass es den Schwarzen erst dann besser gehen werde, wenn sie nicht mehr benachteiligt würden (beim Bus-Boykott ging es auch darum, Schwarze als Fahrer einzustellen). Auch deswegen hieß der Marsch auf Washington, bei dem er 1963 die Worte "Ich habe einen Traum" sagte, "March for Jobs and Freedom". Am Vorabend seines Todes sagte er: "Es genügt nicht, wenn es in einem Lokal keine Rassentrennung mehr gibt, aber der Schwarze nicht genug Geld verdient, um sich ein Sandwich oder einen Kaffee zu kaufen."

Daneben gibt es weitere Facetten aus Kings Leben, die heutzutage weniger bekannt sind und den selbst ernannten "Extremisten der Liebe" so aktuell machen:

  • Er beklagte jahrelang, dass das weiße Bürgertum die Afroamerikaner nicht genug unterstützte. 1963 schrieb King in seinem berühmten "Brief aus dem Gefängnis von Birmingham", dass er zu einer traurigen Einsicht gekommen sei: Das "größte Hindernis" auf dem Weg zur Freiheit für die Afroamerikaner ist "nicht das Ku-Klux-Klan-Mitglied, sondern der gemäßigte Weiße, dem 'Ordnung' wichtiger ist als Gerechtigkeit."
  • Er hatte keine Illusionen, dass Rassismus nur ein Problem des Südens war. Er hatte in Boston studiert und wusste, dass die Vorurteile dort ähnlich groß waren wie in Alabama oder Georgia - sie wurden nur nicht so offen gezeigt. Von 1960 an trat er oft in Chicago, New York, Detroit oder Los Angeles auf, um auf die Ungerechtigkeiten dort hinzuweisen.
  • Er lehnte - inspiriert von seiner Frau Coretta - den Vietnam-Krieg öffentlich ab. Er tat dies ähnlich wie Rosa Parks nicht nur aus Überzeugung, sondern rechnete den Politikern vor: Für jeden getöteten Feind würden mehr als 300 000 Dollar ausgegeben, während die staatlichen Programme zur Armutsbekämpfung lediglich 350 Dollar pro Person zur Verfügung stellten. Sätze wie "Ich bin gezwungen, den Krieg nicht nur als moralisches Verbrechen, sondern auch als einen Feind der Armen zu sehen und ihn als solchen zu bekämpfen", machten ihn für viele US-Bürger - und für das FBI - zum Staatsfeind.
  • King war stets bereit, für seine Ziele die öffentliche Ordnung zu stören oder Gesetze zu missachten, die er als ungerecht empfand. Die "Black Lives Matter"-Aktivisten folgen seinem Beispiel, wenn sie Autobahnen blockieren oder mit "Die-Ins" die Besucher eines Einkaufszentrums stören. Kurz vor seinem Tod sagte King in einem Nobel-Vorort von Detroit, wo es 1967 gewalttätige Proteste gegeben hat: "Ein Aufstand ist die Sprache jener, die nicht gehört werden. Und was war Amerika nicht in der Lage zu hören? Das Elend der Schwarzen, die in Armut leben müssen."
  • Zum Ende seines Lebens äußerte sich King immer kritischer über den Kapitalismus. In Memphis, wo er ermordet wurde, hielt er sich auf, um streikende Müllarbeiter zu unterstützen. An jene Firmen wie Coca-Cola oder Wonder Bread, die damals keine Afroamerikaner einstellten, hatte King eine klare Botschaft: Sie sollten durch Boykotts zum Umdenken gezwungen werden. King war überzeugt, dass sich arme Weiße und Schwarze verbünden müssten. Für ihn war Arbeit Teil der menschlichen Würde, weshalb eine Gesellschaft diese ihren Bürgern ebenso wenig vorenthalten dürfe wie lebenswürdige Wohnverhältnisse oder ein garantiertes Einkommen.
  • Für all diese Ziele wollte King mit einer weiteren Aktion in der US-Hauptstadt werben: Im Mai 1968 wollte er die Poor People's Campaign (PPC) nach Washington führen, um dort eine Zeltstadt aufzubauen. Diese sollte so lange bestehen bleiben, bis der Kongress eine "Charta an wirtschaftlichen Grundrechten" verabschiedet.

Nach der Ermordung von Martin Luther King erhielt die PPC nicht mehr viel Aufmerksamkeit, aber diese in der Öffentlichkeit längst vergessene "Koalition der Armen" zeigt gut, was Jeanne Theoharis mit ihrem Bild der "Fabel" meint. Es ist bequemer, sich an die "I have a Dream"-Rede oder den Voting Rights Act von 1965 zu erinnern, der allen Schwarzen das Wahlrecht sicherte, als über die weiterhin grassierende soziale Ungleichheit in den USA zu sprechen.

Theoharis betont, dass auch Demokraten ihren Anteil daran haben, dass die Bürgerrechtler "reingewaschen" würden. Die Historikerin kämpft seit Jahren dafür, dass den am Civil Rights Movement beteiligten Frauen Gerechtigkeit widerfährt. So wurde die 2005 verstorbene Coretta Scott King stets auf die Witwenrolle reduziert, obwohl sie bereits in der Aktivistenszene engagiert war, bevor sie Martin Luther King heiratete.

Sie kämpfte mit ihrem Mann, der nie das alleinige Rampenlicht gesucht hatte. King nannte seine Frau eine "Soldatin", weil sie trotz der vielen Bombenanschläge und Morddrohungen an seiner Seite blieb. Als er seine Kritik am Vietnam-Krieg erläutern sollte, sagte er: "Coretta hat mich aufgeklärt". Direkt nach dessen Tod übernahm Scott King Rede-Auftritte ihres Mannes,setzte sich in den folgenden Jahrzehnten dafür ein, HIV-Infizierten zu helfen, und warb für die Homo-Ehe.

Noch offensichtlicher ist die Entpolitisierung bei Rosa Parks. Sie wird laut Theoharis reduziert auf "den Sitz im Bus", also auf ihre Forderung, die Trennung zwischen Weißen und Schwarzen in öffentlichen Verkehrsmitteln aufzuheben. Oft wird sie sitzend dargestellt - etwa in der Statue, die zu ihren Ehren im US-Kapitol in Washington aufgestellt wurde. Was diese Einengung aus Sicht der Eliten so verlockend macht: Dieses klar definierbare Problem wurde nach Parks' mutiger Aktion gelöst (die Busse in Montgomery wurden nach 13 Monaten Protest desegregiert), was sich als Fortschritt verkaufen lässt.

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Selbst in neuen Büchern wie der gerade im Insel-Verlag erschienen Biographie über Martin Luther King stehen Sätze wie: "Rosa Parks war keine rebellische Natur. Sie hatte den ganzen Tag in einem Warenhaus gearbeitet und war müde und erschöpft. Normalerweise hielt sie sich an die Vorschriften. Doch in diesem Moment war sie es leid, schikaniert und herumgeschubst zu werden."

Wer hingegen die Bücher von Jeanne Theoharis liest, weiß, dass Parks sehr wohl eine Rebellin war und zurecht als "a lifelong freedom fighter" gefeiert wird. Sie war schon Jahre vor 1955 in der Bürgerrechtsbewegung aktiv gewesen blieb dies bis ins hohe Alter. Zu ihrem Erbe gehört die Kritik am Vietnam-Krieg und am Apartheid-System in Südafrika ebenso wie umfassende Ziele: Sie forderte Programme gegen Armut, wollte das Gefängnissystem reformieren, kritisierte die Stigmatisierung von Sozialhilfe-Empfängern und setzte sich dafür ein, im Unterricht mehr über die Geschichte von Schwarzen und Latinos zu sprechen.

Früher galten Bürgerrechtler als Kommunisten, heute als Terroristen

Doch mit diesen unbequemen Forderungen wird Rosa Parks kaum in Verbindung gebracht. Sie gilt als eher als "zufällige Mutter der Bürgerrechtsbewegung", die auch Republikaner wie Donald Trump, Marco Rubio oder Ted Cruz gut finden. Bei einer frühen TV-Debatte im Herbst 2015 nannten alle drei "Rosa Parks", als sie gefragt wurden, welche Frau auf der 10-Dollar-Note abgebildet werden sollte.

Auch George W. Bush nutzte Parks' guten Ruf für ein Musterbeispiel von Symbolpolitik: Nach ihrem Tod 2005 wurde sie als erste schwarze Zivilistin im US-Kapitol aufgebahrt und mit lobenden Worten überschüttet - für den konservativen Präsidenten eine ideale Gelegenheit, um kurz nach dem Hurrikan Katrina und dem Versagen seiner Regierung in New Orleans den Rassismus-Vorwurf zu entkräften.

Der 50. Todestag von Martin Luther King zeigt, wie zwiespältig Jubiläen sind. Sie können simplere Narrative festschreiben oder - etwa durch die Bücher von Jeanne Theoharis - neue Perspektiven öffnen. Die Historikerin erinnert daran, wie das FBI und die US-Polizei sämtliche Bürgerrechtler überwachte und als "Kommunisten" stigmatisierte.

Auch hier gibt es sehr aktuelle Verbindungslinien zu den Aktivistinnen und Aktivisten der Black-Lives-Matter-Bewegung. Das auch auf Deutsch erschienene Buch der BLM-Gründerin Patrisse Khan-Cullors trägt im Original den erschreckend wahren Titel "Wenn sie dich als Terrorist bezeichnen".

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